Im Land des weiten Himmels
Fliehkraft sie von den Kufen holte und in den Tiefschnee am Rand des Dorfes warf. Prustend tauchte sie wieder auf, sah die vergnügten Gesichter der Indianer und hörte ihr schadenfrohes Gelächter. »Weiße Frau! Weiße Frau!«, riefen sie.
Sie rappelte sich auf und klopfte sich den Schnee aus den Kleidern. Wie den ganzen Winter schon trug sie ihre gefütterte Hose, die ebenfalls gefütterte Felljacke und die Mütze mit den Ohrenklappen, doch der Schnee fand einen Weg und drang bis auf ihre Haut vor. Sich den Schnee von der Nase und den Lippen wischend, kehrte sie ins Dorf zurück. Beim Anblick der fröhlichen Gesichter konnte sie nicht anders, stimmte sie selbst in das Gelächter ein. »Ich weiß, ich weiß, ich bin ein Greenhorn aus dem fernen Europa.«
Doch einige Wochen später – sie hatten jeden zweiten Tag unermüdlich trainiert – klappte es schon besser. »Diesmal schaffst du es!«, feuerte sie sich an, als sie aufs Trittbrett stieg. »Noch einmal lässt du dich nicht abwerfen!«
Sie zog den Anker aus dem Schnee. »Hast du gehört, Kobuk? Ich hab keine Lust mehr, mich von euch abwerfen zu lassen! Diesmal bleibe ich bis ins Ziel dabei. Vorwärts! Lauf, Kobuk, lauf!« Sie schob den Schlitten mit dem linken Fuß an, ging sofort in die Hocke und meisterte die Bodenwelle, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, raste ungebremst auf die erste Kurve zu.
»Heya! Heya!«, rief sie vor Vergnügen, als sie geschickt ihr Gewicht verlagerte und mit dem Schlitten um die Häuser fuhr. Der Schnee spritzte unter den Kufen weg und peitschte zur Seite. In der Hocke, das Gewicht geschickt verlagernd, lenkte sie den Schlitten zum Dorf zurück.
Die Indianer empfingen sie mit lautem Beifall, so wie sie am nächsten Tag applaudierte, als Dorothy das ganze ABC aufsagte und jeden Buchstaben auf ein Blatt Papier malen konnte. Sie machten Fortschritte, die Indianer und sie selbst, und sie verstand langsam, warum die Menschen in Alaska die langen Winter so schätzten. Während der dunklen Jahreszeit fand man die Muße, etwas zu tun, was die meisten Menschen in einer Stadt wie New York längst verlernt hatten. Man kam seinen Nachbarn näher, erzählte Geschichten, spielte miteinander, lernte von den anderen. Man fand wieder zu sich selbst.
Doch die Dunkelheit verstärkte auch die Sorgen und den Kummer, und wenn sie allein durch den Schnee stapfte, dachte sie mit wachsendem Unbehagen daran, dass in diesem Winter weder der Postreiter noch Schwester Becky erschienen waren und sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo Frank sich aufhielt, ob er sie noch immer liebte und ob sie jemals erfahren würde, was er während des unruhigen Fluges in der Trimotor zu ihr hatte sagen wollen.
35
Im tiefsten Winter war es die meiste Zeit dunkel, und selbst wenn die Sonne am Himmel stand, lag düsteres Zwielicht über dem Land. Die Temperaturen, erfuhr Hannah von den Indianern, hatten jetzt wohl ihren Tiefpunkt erreicht, obwohl man sich in Alaska niemals sicher sein konnte. Auch im April hatte es schon Temperaturen unter minus dreißig Grad gegeben. Weder die Tanana noch Hannah besaßen ein Thermometer, konnten nur vermuten, wie kalt es war. Minus dreißig Grad, schätzte Adam, vielleicht sogar noch ein wenig kälter.
Hannah gewöhnte sich langsam an die arktische Kälte. In ihrer gefütterten Kleidung war sie ausreichend gegen die niedrigen Temperaturen geschützt, und der Schal, den sie bis zur Nase hochzog, schützte sie gegen den frostigen Wind. Von Chief Alex hatte sie gelernt, sich das Gesicht mit Fett einzuschmieren, und stellte erstaunt fest, dass es etwas nützte. Bei dem Gedanken, was wohl ihre Freundin Clara zu ihrem Aufzug und diesem »Hausmittel« sagen würde, musste sie lachen. Sie verbrachte den Winter gewiss in ihrem beheizten Haus auf Long Island und wurde von einem Chauffeur in einem ebenfalls beheizten Automobil abgeholt, wenn irgendwo ein festlicher Ball oder Empfang auf sie wartete.
Doch was waren alle Lichter von New York, selbst am hell erleuchteten Times Square mit seinen vielen Reklametafeln, gegen das magische Farbenspiel des Nordlichts, das in manchen Nächten den ganzen Himmel bedeckte und sich in allen nur erdenklichen Farben auf dem Schnee spiegelte. Oft waren die bunten Lichter so stark, dass sie selbst durch Hannahs Vorhänge drangen und sie wie ein magisches Feuer ans Fenster lockten. Staunend und tief beeindruckt stand sie da und sah den leuchtenden Schleiern bei ihren unruhigen Tänzen zu, kunstvoller als die
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