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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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sie lächelte zaghaft –, »damals waren die Frauen nicht so selbständig wie heute. Wir durften noch nicht einmal wählen.« Sie berichtete von dem Glück, in eine wohlhabende Reederfamilie hineingeboren worden zu sein und niemals Armut gelitten zu haben. »Es gab Zeiten, da kam die Hälfte aller Schiffe im Hafen von San Francisco aus unserer Werft. Dort habe ich auch Joseph kennengelernt. Er war damals schon ein erfolgreicher Unternehmer und hat unsere Reederei mit Holz beliefert.«
    Im Bahnhof von Oakland, das nur durch eine Bucht von San Francisco getrennt war, verabschiedete sich Hannah von den Farnworths. Abbie bat ihren Mann, ihr eine Visitenkarte zu geben, und er kam ihrer Bitte widerwillig nach, als hätte er Hannah bereits aus seinem Leben gestrichen, doch Abbie war anderer Meinung und betonte mehrmals, man wolle in Verbindung bleiben. Auch Hannah konnte sich nicht vorstellen, die Farnworths wiederzutreffen, ein Irrtum, wie sich in ein paar Monaten herausstellen sollte, dennoch steckte sie die Karte ein und sagte: »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
    An der Küste von Kalifornien entlang fuhr der Pacific Limited weiter nach Norden. Durch lichte Wälder und an verträumten Ortschaften vorbei ging die Fahrt, begleitet von der schüchternen Sonne, die nur gelegentlich zwischen den Baumkronen aufblitzte. Außerhalb des Waldes blieb das Meer meist in Sichtweite, der Pazifische Ozean, der etwas wärmer, aber auch stürmischer als der Atlantik sein sollte und von Schaumkronen bedeckt gegen die schroffen Küstenfelsen brandete. Pelikane und Möwen kreisten über dem Wasser, schossen blitzschnell hinab, wenn sie Beute entdeckten. Am Horizont waren die rauchenden Schlote eines Dampfers zu sehen, der sich mühsam durch die Wellen pflügte.
    Der rote Doppeldecker tauchte so plötzlich neben dem Zug auf, dass Hannah erschrocken vom Fenster zurückwich. Auf gleicher Höhe mit ihrem Wagen raste die Maschine über die Wiese, die sich neben den Schienen bis zur Küste erstreckte, zog vor einem Wäldchen steil nach oben und verschwand mit röhrendem Motor aus ihrem Blickfeld. Zögernd wagte sie sich wieder ans Fenster. Dunkle Fichten flogen an ihr vorbei, dazu dunkler Rauch von der Lokomotive, dann öffnete sich der Blick, und sie entdeckte das kleine Flugzeug über den schroffen Küstenfelsen. So dicht, dass sie mit der Unterseite des Rumpfs beinahe den Boden streifte, raste sie am felsigen Abgrund entlang, jagte plötzlich steil und beinahe kerzengerade in den Himmel, um im nächsten Augenblick wieder nach unten zu trudeln und kurz vor dem Boden in die waagrechte Lage zu gehen.
    »So ein verrückter Kerl!«, flüsterte Hannah. Sie erkannte Frank Calloway nicht nur an seinem knallroten Doppeldecker und dem weißen Schal – anscheinend sein Markenzeichen – sondern auch an der Art, wie er seinen ausgestreckten Daumen in die Höhe reckte, als wollte er sagen: Seht her, was ich für ein toller Kerl bin! Als er näher an den Zug heranflog, sah sie sogar sein Gesicht und sein strahlendes Hollywood-Lächeln, dass die unschuldigen Mädchen von Central City, Nebraska, beeindrucken mochte, aber nicht eine Frau wie sie, die jahrelang in New York gelebt und schon ganz andere Männer gesehen hatte, wagemutige Bauarbeiter oder Anstreicher, die auf den Gerüsten turmhoher Wolkenkratzer herumgestiegen waren und sich auf freistehenden Stahlträgern ebenso sicher wie auf der ebenen Erde bewegt hatten.
    Warum sie ihm dennoch so fasziniert bei seinen Kunststücken zusah, wusste sie selbst nicht. War es der Gedanke, er könnte ihr nachgeflogen sein und dieses Schauspiel nur für sie inszenieren? Eine absurde Idee, zumal nach der Abfuhr, die sie ihm nach dem unfreiwilligen Kunstflug erteilt hatte, aber auch irgendwie angenehm, denn wer konnte schon von sich sagen, je mit so einer Vorstellung geehrt worden zu sein? Und warum sonst sollte er dem Pacific Limited gefolgt sein? Oder gab es noch andere Passagiere im Zug, die er mit dem Kunstflug beeindrucken wollte?
    Sie lächelte für einen Augenblick, verwarf den Gedanken aber wieder, als er über den Zug aus ihrem Blickfeld verschwand und der Motorenlärm rasch in der Ferne verebbte. Sosehr sie auch lauschte, er kehrte nicht zurück. Also doch nur ein Spaß, er hat sich einen Spaß mit mir erlaubt, dachte sie. Sie griff nach ihrem Magazin und suchte sich eine Story mit besonders aktionsreichen Illustrationen aus, schaffte es aber nicht, sich zu konzentrieren. Nach beinahe jedem

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