Im Land des weiten Himmels
Mutter vorgelesen hatte. »Meiner Mutter hat er geschrieben, dass er sehr krank ist und vielleicht sogar sterben muss …« Sie blickte Buddy besorgt an. »Vielleicht braucht er Hilfe.«
Sie trieben ihre Maultiere an und ritten ins Tal hinab. Der Pfad schlängelte sich durch feuchtes Gras und ein Meer von violetten Blumen, ein Anblick, der Hannah normalerweise begeistert hätte, und endete vor dem zweistöckigen Blockhaus, das sich im Schatten einer zerklüfteten Felswand erhob.
Für das Haus eines alleinstehenden Mannes war es erstaunlich groß. Nur wenige Schritte vom Eingang entfernt stand ein Vorratsspeicher, der wie ein Miniaturblockhaus aussah und auf Stelzen gebaut war, damit Bären und andere wilde Tiere nicht an die Lebensmittel kamen. Ein ausgetretener Pfad führte zum Bootssteg hinab, ein anderer durch einen Birkenwald zu den Felsen hinter dem Haus. Neben dem Eingang lag ein großer Stapel Brennholz.
Sie stiegen von den Maultieren und blickten sich suchend um. »Dutchman!«, rief Buddy. »Wo steckst du, verdammt? Sag was, Dutchman!«
»Onkel Leopold! Ich bin’s … Hannah! Lisbeths Tochter!«
Sie lauschten eine Weile und bemerkten erst jetzt, dass die Tür einen Spalt offen stand.
»Seltsam!«, wunderte sich der Postreiter. »Nur ein Greenhorn würde vergessen, die Tür zu verriegeln, und ein Greenhorn war der Dutchman ganz bestimmt nicht. Der wusste, dass sich unerwünschte Vierbeiner in seinem Haus breitmachen würden, wenn er so leichtsinnig wäre.«
Er griff nach seinem Gewehr und näherte sich vorsichtig der Tür. Mit einer Handbewegung bedeutete er Hannah, in Deckung zu gehen. »Falls der Dutchman unerwünschten Besuch hat!«
Hannah versteckte sich hinter ihrem Maultier und hielt sich mit beiden Händen am Sattelhorn fest. Über den Rücken des Tieres hinweg beobachtete sie, wie er die Tür mit dem Gewehrlauf aufstieß und das Haus betrat.
Eine Weile hörte man nur seine Schritte und das Knarren der Stufen, als er in den ersten Stock hinaufstieg. In der unheimlichen Stille, die das Haus umgab, wirkten die Laute beinahe gespenstisch.
»Alles klar«, rief er, nachdem er wieder im Parterre war. »Sie können reinkommen!«
Hannah atmete erleichtert auf und folgte ihm ins Haus. In dem großen Raum im Erdgeschoss blieb sie bekümmert stehen. Wohl wissend, dass ihr Onkel allein lebte und durch eine schwere Krankheit behindert war, hatte sie kein gemütliches Heim erwartet, doch eine solche Unordnung hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Auf den beiden runden Tischen und einem Tresen, die sie an Gasthöfe in der alten Heimat erinnerten, standen schmutzige Becher und Gläser, auf einem der Tische sogar ein Teller mit verkrusteten Bohnen. Der Boden war schmutzig und mit Unrat bedeckt. Vor dem Tresen lagen zwei leere Flaschen auf dem Boden.
Buddy öffnete die Klappe des Ofens und schüttelte verwundert den Kopf. »Eiskalt. Bestimmt schon seit Tagen. Mal sehen, ob ich ihn wieder in Gang bringe.«
Während der Postreiter sich am Ofen zu schaffen machte, schaute sich Hannah in der angrenzenden Küche um. Auch dort sah es chaotisch aus. In einer Blechschüssel mit brackigem Wasser lag schmutziges Geschirr, auf dem Tisch war verschütteter Kaffee getrocknet und hatte einen hässlichen Fleck hinterlassen, eine offen stehende Schranktür hing lose in den Angeln. In dem Topf, in dem er das Bohnengemüse gekocht hatte, waren bereits Spinnweben zu sehen.
Sie verzog angewidert ihr Gesicht und stieg über eine steile Treppe in den ersten Stock hinauf. An den Wänden hingen Fotografien und Stiche aus Deutschland, darunter das Ulmer Münster.
Im Schlafzimmer roch es muffig. Das Bett war ungemacht, im offenen Schrank lagen die Hosen und Hemden durcheinander, auf einer kleinen Kommode stand eine gerahmte Fotografie, das Hochzeitsbild ihrer Eltern. Das gleiche Foto, das sie aus New York mitgenommen hatte. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es verwundert. Ihr Onkel Leopold musste ihre Mutter sehr geliebt haben, wenn er sich dem Schmerz aussetzte, täglich ihr Hochzeitsbild anzusehen.
Im Wohnraum brannte bereits der Ofen, als sie nach unten kam. Buddy stand davor und rieb sich die schmutzigen Hände an einem Lumpen sauber. »Die Unordnung sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich«, sagte er. »Wenn ich’s mir recht überlege, war er sogar übertrieben pingelig. Kam gleich mit einem Lappen angerannt, wenn man was verschüttete – wie meine Mutter, als ich klein war –, und hantierte öfter mal mit einem
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