Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
Vom Netzwerk:
bestellt hatte, schlüpfte mit den nackten Füßen in ihre Stiefel und stieg leise in den Gastraum hinunter. Das Mondlicht, das durch eines der beiden Fenster hereinfiel, spendete genug Licht. Sie nahm ihre pelzbesetzte Jacke vom Haken neben der Tür, zog sie über den Morgenrock und lief zur Anlegestelle hinunter. Frischer Wind wehte ihr entgegen und brachte den Geruch von feuchter Erde mit.
    »Chief Alex«, begrüßte sie ihn, »es ist sehr spät.«
    »Ich schlafe schlecht, wenn der Mond voll ist.«
    »Und ich bekomme kein Auge zu, wenn der Häuptling der Tanana vor meinem Haus steht und mich mit seinen Blicken straft. Habe ich dir nicht mehrfach bewiesen, wie sehr mir an einer guten Nachbarschaft gelegen ist?«
    »Die bösen Geister sind zurückgekehrt.«
    »Das stimmt nicht, Chief Alex.«
    »Und warum war Schwester Becky nicht auf dem Boot?« In seinem Blick lag eher Bedauern als ein Vorwurf. »Sie ist eine gute Frau, und viele von uns haben sehnsüchtig auf sie gewartet. Die bösen Geister sind zurückgekehrt und wollen nicht, dass sie uns besucht.«
    »Das ist nicht wahr, Chief Alex.« Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. »Schwester Becky lässt euch einen lieben Gruß ausrichten. Ihre Kollegin ist krank, deshalb muss sie diesen Monat in Fairbanks bleiben. Nächsten Monat ist sie wieder dabei. Ich soll sie vertreten. Ich habe mal in einem Krankenhaus gearbeitet und weiß, wie man Blutungen stillt und Verbände wickelt. Ich werde euch bald besuchen, das verspreche ich dir, Chief.«
    »Du hast keine Medizin.«
    »Ich habe Aspirin, ich habe Hustensaft, ich habe Verbandszeug. Mach dir keine Sorgen. Wenn es sein muss, ziehe ich sogar einen Zahn.« Allein der Gedanke ließ sie unruhig werden, aber irgendetwas musste sie ihm sagen. Geduckt und erschöpft stand der einst stolze Indianer vor ihr und musterte sie misstrauisch. »Und was ist mit dem Mann, der bei dir schläft?«
    »Er schläft in einem der beiden Gästezimmer«, erklärte sie, um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, »und er bezahlt mich dafür. Ein Roadhouse ist wie ein Hotel. Du weißt, was ein Hotel ist, nicht wahr?«
    Er nickte. »In unserer Sprache gibt es kein Wort dafür. Unsere Gäste müssen nicht dafür bezahlen, bei uns zu übernachten. Die Tanana sind für ihre Gastfreundschaft bekannt. Auch unser Essen teilen wir mit jedem, der in unser Haus kommt. So ist es seit langem Brauch.«
    »Hast du bei mir bezahlen müssen?« Sie spürte den frischen Wind nicht mehr. »Auch meine Freunde müssen nicht bezahlen. Der Mann, der in einem meiner Gästezimmer schläft, ist nicht mein Freund. Er will drei Tage am Gold River bleiben und die Tiere und die Pflanzen dieser Gegend studieren.«
    »Dazu reichen drei Tage nicht aus. Er muss ein Lügner sein.«
    Sie dachte an ihre Unterhaltung vom vergangenen Abend und die abfälligen Bemerkungen über »die Wilden«. »Ich mag ihn genauso wenig wie du, Chief Alex, und kann dir versprechen, dass er keinen Tag länger als unbedingt nötig bleiben wird. Auch ich bin froh, wenn er uns wieder verlässt.«
    Ihre Worte konnten den Häuptling nicht versöhnen. »Du bist anders als dein Onkel. Du ziehst die bösen Geister an. Sie kommen mit Lügnern wie diesem Fremden, und du bist zu schwach, um dich gegen sie zu wehren.«
    »Das ist nicht wahr, Chief! Hier sind keine bösen Geister!«
    »Ich kann sie fühlen, weiße Frau«, widersprach er. »Bleib uns fern, bevor sie unser Dorf heimsuchen. Ruf deinen Piloten, und fliege mit ihm davon!«
    »Das kann ich nicht, Chief Alex! Ich will eure Freundin sein.«
    »Es tut mir leid. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
    Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich abgewandt, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ins Haus zurückzukehren. Auf leisen Sohlen stieg sie in den ersten Stock hinauf. Horatio W. Pearlman schlief fest, aus seinem Zimmer drang immer noch sein leises Schnarchen. Sie zog ihre Jacke, den Morgenmantel und die Stiefel aus und legte sich ins Bett. Trotz der vielen Decken und obwohl das Fenster fest verschlossen war, zitterte sie vor Kälte.
    Innerhalb weniger Stunden und nur durch eine Verkettung ungünstiger Umstände waren ihre wochenlangen Bemühungen, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Indianern aufzubauen, zerstört worden. Das Fernbleiben von Schwester Becky, die Ankunft eines geheimnisvollen Fremden, der Anblick des roten Flugzeugs … So wie sie die Indianer inzwischen kannte, wunderte sie sich nicht über deren erneute

Weitere Kostenlose Bücher