Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
in die fremde Wohnung und brachte Fotoalben, Nippsachen, Kleidungsstücke, Bücher, Schallplatten zu diesen Freunden, bis wir ein paar Tage später die Wohnung von Ingos Familie versiegelt vorfanden.
Abgesehen von der Tatsache, dass Ingo fort war und ich seinen Weggang im Kinderfernsehen verkündet hatte, ließ mich der Mauerbau unberührt. Die Konsequenzen begriff ich erst viel später. Das Land zu verlassen lag mir fern. Meine Mutter war schon sehr krank, Schule, Fernseharbeit, Sport füllten mich aus, von Verwandten im Westen wusste ich nichts, und um Ostmark zum Kurs von 1:5 in Westmark zu tauschen für Kaugummi und Kakao, Petticoat oder Hula-Hoop-Reifen, hat es bei uns nur sehr selten gereicht. Dass ich nicht mehr im Westen ins Kino gehen konnte – denn in einigen Kinos galt »Ost-Besucher zahlen 1:1« –, fand ich doof, mehr nicht. Auch fühlte ich mich nicht, wie viele Christen, in der Ausübung meines Glaubens behindert, denn damit hatte ich abgeschlossen.
Die Erklärungen für den Mauerbau erschienen mir damals sogar plausibel: Man musste dem Ausbluten des Landes einen Riegel vorschieben. Westberliner hatten bei uns Lebensmittel eingekauft, hatten unsere spottbilligen Dienstleistungen – Friseur, Schuster, Reinigung – in Anspruch genommen. Unsere Ärzte, Wissenschaftler, Künstler verließen reihenweise das Land. Erst als ich auf der Filmhochschule studierte, und noch später, als ich am Potsdamer Hans-Otto-Theater spielte, sah ich, was die Teilung einer Stadt auch bedeutete.
Gab es bis zum Mauerbau eine schnelle S-Bahn-Verbindung durch Westberlin nach Potsdam, fuhr nun der sogenannte Sputnik über den Außenring um Berlin. Die Fahrt dauerte viel länger als eine quer durch die Stadt.
Im September 1961 begann also mein zehntes Schuljahr. Der Mauerbau war Thema Nummer Eins, der Direktor führte mit uns Gespräche über unsere Einstellung zur DDR . Fragte zum Beispiel, auf welcher Seite der Mauer man ideologisch stünde – im Osten? Im Westen? Ich sagte: »Auf der Mauer.« Das fand er nicht originell. Aber damals war mir die Politik wurscht, ich hatte andere Sorgen.
Viele meiner Mitschülerinnen brezelten sich auf und gaben an mit einem Freund. Ich hatte viele Freunde. Aber die drucksten rum, ich sei so streng, ich könne immer alles, das würde sie einschüchtern, und meine Nase wäre zu lang, und ich hätte auch gar keinen Busen, und meine Schwester sei sehr schön, ob sie die nicht mal treffen könnten. Sie fanden mich toll – als Kumpel. Das nützt einem Mädchen, das Sehnsucht nach Romantik hat, wenig. Ich wollte auch geküsst werden. Stattdessen schrieb ich Gedichte, malte, hockte zu Hause stundenlang am Fenster, träumte und litt.
Beim Kinderfernsehen lud mich mal ein junger Tontechniker zum Eisessen ein. Ich schwebte auf Wolke sieben, denn ich war verknallt in ihn. Ich freute mich sehr auf mein erstes Rendezvous – und dann stand er vor mir mit seiner Freundin. Daran hatte ich mächtig zu knabbern. Fortan misstraute ich jedem noch so nett gemeinten Kompliment.
Einige Zeit später sagte ein verflixt gut aussehender Junge etwas zu mir, das meinen Gefühlshaushalt durcheinanderbrachte. Ich kannte ihn schon länger, er erinnerte sich, dass ich ihm einst auf dem Spielplatz in Adlershof meine Lieblingstaschenlampe und eine Kinokarte geschenkt hatte. Da waren wir zehn oder elf gewesen.
Jedenfalls sah ich ihn beim Schulsportfest in der Oberschule wieder. Ich saß gerade auf einer Bank und guckte zu, wie er eine Standwaage machte. Nun ist eine Standwaage keine wirklich männliche Turnübung. Wie er da so auf einem Bein stand, das andere Bein in der Luft, die Arme wie zum Fliegen ausgebreitet, das Gesicht hochgereckt, die Augen schwarz voller Zorn – da trafen sich unsere Blicke, und er wurde puterrot. Er hasste derartige Verrenkungen, erfuhr ich später, arbeitete lieber mit dem Kopf. Er war ein Jahr älter als ich, überaus beliebt und ständig umringt von Mädchen, die ihn anschwärmten. Ausgerechnet mir sagte er an jenem Sportfest-Nachmittag: »Du bist die Einzige auf der Welt, die mich versteht! Du bist ein kleines, schönes Weibchen.«
Davon habe ich jahrelang gezehrt. Er wurde mein Mann, viel später.
Ich werde Schauspielerin
In der zehnten Klasse der Oberschule hatte man sich für einen Beruf zu entscheiden. Ich dachte eine Zeitlang an eine Karriere als Zoo-Tierärztin, weil ich Tiere liebte und wir daheim immer welche zu versorgen hatten. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus,
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