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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Biermann
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hatte zwar ungezählte Kinderbücher gelesen, von Belletristik für Erwachsene jedoch kaum Ahnung. Einige Studenten besaßen Bücher, die es in der DDR nicht gab, die gingen von Hand zu Hand. Kafka, Hesse, Joyce – wie ein Mülleimer schluckte ich diese und auch Theater-Literatur. Und verstand keineswegs alles. Aber wer von den Jungen verstand schon den Ulysses ? Auch Marxismus-Leninismus hab ich nicht kapiert. Oder Alexander Metterling Die vierte Dimension . Seine Theorie: Sich die vierte Wand der Bühne, also die zum Publikum, geschlossen vorstellen, dagegen spielen, es sei unwichtig, gesehen zu werden. Keine Ahnung, wie das praktisch anzustellen sei, aber wenn man beiläufig erwähnte: »Ich hab gestern mal den Metterling gelesen«, gehörte man zu einer Art innerem Zirkel und galt als schlau.
    Mir blieb viel Unverdautes von der Lektüre im Kopf, was mir dennoch half, Rollen zu erarbeiten. Auch das Nichtverstehen gehört zum Handwerkszeug, und wenn es die Erinnerung an das Gefühl des Nichtverstehens ist. Einmal hatte ich eine Stumme zu spielen, die nichts versteht: Die Scham, die Unsicherheit, die ich beim Lesen solch schwieriger Literatur empfunden hatte, die konnte ich nun abrufen.
    Das entsprach der Stanislawski-Methode, die uns Werner W. Wieland, ein erfahrener Schauspieler und Hörspielregisseur, lehrte. Konstantin Stanislawski, der russische Theaterreformer, setzte auf die Erfahrung eigener Erlebnisse, um eine Rolle zu erarbeiten. Im Gegensatz zu Brechts Technik der Verfremdung, aber das kam später.
    Mir lag der pure Naturalismus, wie wir Stanislawski gedeutet haben, besonders, als ich Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann spielte. Die geforderte Genauigkeit in Gestik, Mimik, Sprache zwang mich zu innerer Ruhe. Ich war immer sehr schnell, wollte schnell durchkommen, schnell etwas erreichen, hatte demzufolge immer gute Einfälle und äußerte spontan eine Meinung. Das kann positiv sein, aber auch hinderlich, wenn man weitere Möglichkeiten erwägen sollte. Durch dieses naturalistische Spiel des Kleinbürgerlichen wurde ich zu Gründlichkeit gezwungen, bis hin zum penetrant Peniblen.
    Auch im Etüden-Seminar, was heute Grundlagen-Seminar heißt, ist das wertvoll: Man geht zum Beispiel über die Bühne, in deren Mitte hält man inne und spielt eine Begebenheit. Die Kommilitonen müssen die Situation erraten. Ist der Vorgang zu klein, erzählt er nichts, gibt es nichts zu erraten. Wenn ich zum Beispiel verharre, erschrocken gucke, an die Tasche greife, mich ratlos umblicke und die Zuschauer erkennen: Portemonnaie verloren, dann habe ich diesen Vorgang genau zerlegt und präzise dargestellt.
    Wir lernten, Tiere zu spielen, fremde Typen und Menschen nachzuahmen. Improvisation von Texten in verschiedenen Situationen, Gesten, einen Gang, Gefühlsausbrüche – all das, was ich intuitiv längst erfasst hatte, wurde mir klar und verständlich und brachte meine Fantasie auf Hochtouren.
    Auch die Sprechtechnik, wie wir sie gelernt haben und wie sie an der Filmhochschule und der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« heute noch gelehrt wird, kommt mir zugute. Wir lernten, so zu flüstern, dass wir bis in die letzte Reihe verstanden werden, denn erst dann ist der Schauspieler präsent in der Rolle.
    Am Anfang mochte ich Sprecherziehung überhaupt nicht. Wir mussten unsere Zungen festhalten, sie weit herausstrecken, herumdrehen und dabei irgendwelche Laute formen, das alles vor einem Spiegel. Meist endete es in einem Lachkrampf oder in einer Rüge der Sprecherzieherin Frau Konrad-Gäbel. Sie arbeitete nach der Methode von Luise Kepich-Overbeck, die in den fünfziger Jahren ein Standardwerk veröffentlicht hatte. An der »Ernst Busch« in Berlin wird Sprecherziehung nach Egon Aderhold gelehrt. Heute lernen angehende Schauspieler auf den Schulen selten nach einer bestimmten Lehre, sie lernen harmonisch Fühlen statt Sprechtechnik, sie üben Gruppenverhalten, im Kreis Kontakt aufnehmen, wir spüren uns, piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb – und dann sind die meisten nach einmal Spüren heiser. Oder sie brüllen, was eine unsinnige Kraftverschwendung ist. Etliche der jungen Kolleginnen und Kollegen schreien auf der Bühne, und man versteht sie nicht, sie sind ohne Technik.
    Wobei Brüllen natürlich auch geübt werden muss. Und Atmen, Entspannen, das Stimmvolumen stärken. Ich lernte ganze Buchstabenfolgen in Tonleitern auswendig: a e i o u ä ö ü ei eu au und bewegte dabei meine Lippen in der

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