Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
wir immer da sein konnten.
Kein Jugendamt krähte nach uns. Ich ging morgens in meine alte Schule und nachmittags zum Sport oder zum Kinderfernsehen, meine Schwester besuchte die Sportschule, trainierte Paarlauf auf dem Eis. Wir grüßten artig die Nachbarn, schlossen nachts ab und wurden still und allein erwachsen.
Mauer-Sommer
Trotz Fernsehen und Sport – ich trainierte immer noch Eisschnelllauf – bekam ich einen Platz an der EOS , der Erweiterten Oberschule, die von der 9. Klasse zum Abitur führte. Nur zwei bis vier Kinder einer Klasse schafften diesen Sprung. Bevorzugt wurden Arbeiterkinder, Voraussetzung war ein Zensurendurchschnitt von mindestens 1,7 und die Teilnahme an der Jugendweihe.
Die lehnte meine Mutter für ihre Töchter kategorisch ab: »Für Jugendstunden hast du überhaupt keine Zeit, und geloben musst du gar nichts, nächstes Jahr ist Firmung, du hast in allen wichtigen Fächern eine Eins, mehr geht nicht, und wenn die in der Schule Theater machen, komme ich hin und rede mit ihnen.«
So fand der feierliche Eintritt ins Erwachsenenalter – die einen mit Jugendweihe, die anderen mit Konfirmation – ohne mich statt. Der Unterschied wurde für mich sichtbar am ersten Oberschultag im September. Während meine neuen Klassenkameradinnen stolz in wippenden Röcken und Perlonstrümpfen antanzten, die halblangen Haare an den Seiten zu Sechserlocken gezwirbelt, munter die nagelneuen Aktentaschen schwenkend, erschien ich in Kniestrümpfen und einem Latzrock, dessen breite Träger sich auf dem Rücken unter dem Ranzen kreuzten. Vorn baumelte die S-Bahn-Fahrkarte am Hals, damit ich das teure Ding nicht verliere. Meine Haare waren schon immer kurz und strubbelig, und auch in dieser Klasse war ich die Kleinste. Ich fühlte mich wieder mal wie »Paul allein auf der Welt«.
Unsere Schule trug den Namen Klement Gottwald, der war bis 1953 Staatspräsident der Tschechoslowakei gewesen. Deshalb wurde Tschechisch gelehrt, doch ich kam in eine Klasse, in der außer Russisch und Latein Französisch auf dem Lehrplan stand. Französisch fand ich ätzend. Schon wenn die Lehrerin mich »Carmong« nannte, sträubte sich mein Fell. Die slawischen Sprachen gefielen mir besser, aber man konnte es sich nicht aussuchen.
Wahrscheinlich habe ich aus dieser Zeit eine kleine Frankreich-Phobie zurückbehalten. Auf jeder meiner Frankreichr-Reisen passierte etwas. Einmal, es war ein Gastspiel mit der Volksbühne, machte ich eine Flanke über die Barriere der Pariser Metrostation, um Fahrgeld zu sparen. Dafür gingen meine Tagegelder als Strafe drauf. Später, als ich mit dem Berliner Ensemble in Paris war, streikte das dortige Theater: Draußen demonstrierten Leute, drinnen kämpften die Kollegen um irgendwelche Rechte, deshalb versagten sie auch uns das Spielen. 1983, beim letzten Frankreich-Gastspiel mit dem Berliner Ensemble, lag meine Mutter im Sterben, und ich fuhr vom Flughafen gleich ins Krankenhaus, um sie noch einmal zu sehen.
Die privaten Reisen nach dem Mauerfall verliefen nicht besser. Als ich mit meinem Mann und den Kindern in der Bretagne war, fiel genau vor der Tür unseres Ferienhauses ein Golfspieler tot um. Auf Korsika aß ich am ersten Urlaubstag einen Krabbensalat, auf den ich mich lange gefreut hatte. Der war offenbar nicht frisch gewesen, denn mir wurde derart übel, dass ich zu sterben glaubte. Erst nach drei Tagen nahm mein Magen wieder feste Nahrung auf. In der Normandie besuchten wir mit den Kindern ein Volksfest, bei dem es zur Tradition gehört, Wildgänse zu schießen. Die toten Vögel wurden auf dem Festwagen präsentiert, die Kinder waren kaum zu trösten in ihrer Wut und ihrem Entsetzen. Vive la France!
Aber zurück zum Sommer 1961. Am 13. August, einem Sonntag, wir hatten gerade die Kunde vom Mauerbau im Radio gehört, rief die Mutter von Ingo an, dem Blauen Blitz Zack aus dem Pionierkabarett. Ich möge bitte schnell mal vorbeikommen. Ich war häufiger bei Ingo zu Hause gewesen, einem großzügigen Arzthaushalt, zwei S-Bahn-Stationen von uns entfernt. Ingos Mutter teilte mir kurz und knapp mit: »Wir verlassen am Nachmittag die Stadt, bitte, hole später ein paar Sachen aus der Wohnung und bring sie zu Freunden.« Sie befürchtete, dass die Freunde beschattet und durch eine solche Aktion gefährdet werden könnten. Sollte mich jemand fragen – den Schlüssel hätte ich von Ingo, meinem Schulfreund.
Und so trabte ich gutmütiges Huhn mit meiner Schwester und einem Nachbarjungen mehrere Male
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