Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
kann. Zum Beispiel kamen mir meine Notizen zur Grusche, all diese merkwürdigen Ausdrucksmittel, sehr zugute, als ich 1984 unter Peter Konwitschny am BE in Jacke wie Hose den Max Gericke spielte.
Und ich lernte Theaterdisziplin. Die allerdings auf ausgesprochen harte Weise. Eines Tages war die Probe früher zu Ende, und ich fuhr nach Berlin. Abends gab es im Fernsehen Stahlnetz , seinerzeit ein Straßenfeger, das wollte ich natürlich sehen. Kurz vor 19 Uhr klingelte es Sturm an meiner Tür. Oberwachtmeister Eichel von der Köpenicker Feuerwache bat mich mitzukommen: »Ein Gespräch für Sie, dringend!« Die Feuerwache hatte Telefon, ich nicht. Katastrophenszenarien gingen mir durch den Kopf, Schicksal, Feuer, Tod. Das, was dann kam, lag jedoch außerhalb meiner Vorstellung.
Der Chef des Künstlerischen Betriebsbüros brüllte am anderen Ende durch die Leitung: »Was soll ich mit den Leuten machen, die hier vor dem Theater stehen? Wir haben eine Spielplanänderung, Sie können nicht einfach abhauen, Sie haben bis 16 Uhr bereitzustehen! Das hat ein Nachspiel, morgen früh sind Sie 10 Uhr in der Intendanz!«
Mir wurde übel, ich hatte Angst umzukippen. Ich kam gar nicht zu Wort, er brüllte immer weiter. Mit letzter Kraft schrie ich zurück: »Was meinen Sie, wie es mir geht, Sie Idiot!«
Eigentlich meinte ich mit Idiot mich. Ich saß in Berlin, der nächste Zug fuhr in einer Stunde, für ein Taxi hatte ich kein Geld, ich kannte niemanden, der ein Auto besaß und mich hätte fahren können – es gab für mich keine Chance. Und ein paar hundert Leute waren vergeblich ins Theater gekommen, hatten sich feingemacht, sich darauf gefreut und mussten nun wieder gehen, weil ich fehlte ...
Mein Herz raste, ich schämte mich wie noch nie in meinem Leben. Dieses Gefühl lässt sich nicht in Worte fassen, wie mir an dem Abend zumute war, wie ich nicht geschlafen habe in der Nacht, wie ich die Sputnikfahrt am nächsten Morgen überstanden habe. Und wie ich mich dann erst im Theater gefühlt habe. Angebrüllt haben sie mich, niemand hat gesehen, dass ich schon genug gestraft war.
Später habe ich mit Kollegen darüber geredet. Hermann Beyer hatte auch einmal eine Vorstellung versäumt, er bestätigte: Diese Schmach ist wie eine schlimme Krankheit, ein totaler Zusammenbruch.
Vor dem gesamten Ensemble, vor Intendanz und dem Chef des Künstlerischen Betriebsbüros, die alle im Zuschauerraum versammelt saßen, musste ich mich entschuldigen. Das Theater hatte den Besuchern angeboten, in der Kantine noch ein Bier zu trinken. Die Rechnung wurde mir aufgebrummt. Die Konfliktkommission war zusammengetreten und hatte mich zu einem Monatsgehalt Strafe verdonnert. Ich durfte sie in 50-Mark-Raten bezahlen. Ich spielte längst an der Volksbühne, da knabberte ich immer noch an den Raten.
Dennoch war ich sehr glücklich in Potsdam, in meiner ersten Theaterfamilie, in dieser Sturm-und-Drang-Zeit, dem ersten Ensemble, dem ich angehörte. Wir stritten und schlichteten, brüllten uns an und lachten, die Temperamente krachten aufeinander, wir suchten nach spielbaren Stücken, quälten uns mit Neuem, freuten uns über Gelungenes, wir tranken und feierten. Was für eine gute Zeit!
Erste eigene Wohnung
Mit dem sicheren Einkommen von 425 Mark bezog ich eine kleine Wohnung in Berlin-Köpenick am Katzengraben, ein Zimmer, Küche, Ofenheizung, Außentoilette. Sie galt als schwer vermietbar, wie das damals hieß, und kostete nur 18 Mark Miete. Es war zwar lange nicht so komfortabel wie in dem Häuschen bei meiner Mutter, aber allein zu sein, über den Tag zu entscheiden, das fand ich wundervoll. Ich hatte einen Freund, Thommy, und war frei.
Im Haus wohnten noch zwei Familien und ein bekloppter Mann, der sei aber harmlos, sagte man. Dennoch graulte ich mich, wenn ich nachts mit dem letzten Sputnik nach Hause kam und über den dunklen Hof gehen musste. Schon der Heimweg nach der fast einstündigen Bahnfahrt von Potsdam über Karlshorst nach Köpenick, dann weiter mit der Straßenbahn, zog sich hin, und wenn die Straßenbahn nicht mehr fuhr, musste ich laufen, die ganze lange Bahnhofstraße entlang, über die Spreebrücke, durch die nachts ausgestorbene Köpenicker Altstadt, das war ein ungemütlicher Marsch.
Einmal verfolgte mich ein Mann, quatschte auf mich ein, was er alles mit mir anstellen würde, ich lief immer schneller, am kleinen Park nahm er eine Abkürzung und fing mich auf der Brücke ab. Mein Gehirn lief auf Hochtouren: wenn ich jetzt
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