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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Biermann
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Dienstschluss.
    Die Verbindung zu Manfred Butzmann, Peter Schwarzbach, Kornelius und einigen anderen hält bis heute; noch immer feiern wir gelegentlich Feste, die bis zum Morgen dauern.
    Als Ingrid Goltzsche zu zeichnen begann, weckte das in mir die Lust am Malen. Meine Freundin Barbara Müller-Kageler studierte Malerei. Sie schenkte mir einen Schuhkarton voller Farbtuben mit Resten und Pinsel. Mit Barbara verbindet mich eine lebenslange Freundschaft, sie kutschierte mich einst im Kinderwagen durch Adlershof. Ich war glücklich und begann, jede Pappe zu bemalen. Es gab in Ostberlin nur einen Laden für Künstlerbedarf in der Chausseestraße, und das Zeug war ziemlich teuer. Zwei Farben, die ich immer suchte, bekam ich in kleinen Tuben: Pariser Blau und Moosgrün oder Russisch Grün. Dieses Blau hat sich durch all meine Garderobe gezogen, ich liebe diese Farbe bis heute. Und das Grün begleitet mich durch alle Wohnungen, Datschen und Möbel.
    Die Goltzsches erklärten mir Maltechniken, zu Hause probierte ich eifrig alles aus, traute mich sogar an Radierungen, wie ich es von ihnen abgeguckt habe. Wir nahmen Pappröhren, steckten in alte Kugelschreiber kleine Nägel und ritzten damit Bilder. Drucken durfte ich bei ihnen.
    Von jedem Pappkarton schnitt ich ordentliche Vierecke, lackierte sie mit weißer Farbe, das war meine Leinwand. Die konnte man nur vom Meter kaufen, für mich nicht bezahlbar.
    Als ich an der Volksbühne war, gab Besson mir und zwei anderen Kollegen einmal die Möglichkeit, Bilder im Foyer und den Treppenaufgängen auszustellen. Von mir hingen Porträts von Karge und Langhoff, Landschaften und Blumen dort.
    Meist hab ich gemalt, wenn ich traurig war. Musik hören und malen bedeutete für mich Trost und so etwas wie Geborgenheit. Den Geruch von Farben und Terpentin hatte ich seit frühster Kindheit in der Nase. Vielleicht hab ich doch von meinem Vater ein bisschen Talent geerbt. Aber Brecht sagte ganz richtig, Talent sind zehn Prozent, der Rest ist harte Arbeit. Und gearbeitet habe ich am Theater.
    Ingrid Goltzsche aber konzentrierte sich bald ganz auf die Kunst, malte Akte, Pferde, Landschaften, Porträts, arbeitete mit Aquarell- und Ölfarben. Als hätte sie ihren frühen Tod geahnt – sie wurde nur 56 Jahre alt –, stürzte sie sich in die Kunst. Fast 5000 Arbeiten hat sie hinterlassen.
    Den Goltzsches bin ich heute noch dankbar, dass sie mich mitnahmen nach Friedrichshagen zu ihrer Freundin Charlotte E. Pauly, die schon zu Lebzeiten eine Berliner Legende war. Als ich sie kennenlernte, war sie eine hinreißende alte Dame, Ende Siebzig, mit blitzenden, jungen Äuglein, immer eine bunte Kappe auf den grauen Löckchen. Sie sprach mit hoher, zarter Stimme und wie Alexander Kluge mit diesem fragenden, nach Bestätigung suchenden Ja? in jedem Satz: »Ich habe gestern ein Bild gemalt, ja? Und dabei fiel mir ein, ja? ...« Und sie sprach so, wie sie zeichnete: konzentriert, knapp, schnörkellos.
    Vielleicht gehörte die Art zu sprechen zu ihrer Taktik: Zeit gewinnen, Worte mit Bedacht wählen, Zuhörer bannen. Und sie konnte uns bannen – mit Geschichten von ihren Reisen rund ums Mittelmeer, bis nach Syrien, Persien, Palästina. Ich erstarrte vor ihrer Bildung, die sie nie zur Schau trug, die man aber allenthalben spürte. Sie war die Erste, die Garcia Lorca aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt hatte. Sie hatte Biologie, Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte studiert und promoviert, kannte viele interessante Menschen. Ingrid erzählte mir, dass sie mit Gerhart Hauptmann befreundet gewesen war und dessen Sarg von Agnetendorf im Riesengebirge in einem Sonderzug nach Deutschland begleitet hatte, wo er in der Nähe seines Hauses in Kloster auf Hiddensee beigesetzt wurde. Das war 1946.
    So etwas wie Charlottes Wohnung hatte ich nie zuvor gesehen. Wohnung ist nicht der richtige Begriff, es war eher eine Bude. Ich verstand bei dem Anblick die Bedeutung des Wortes Stillleben: Aneinander gelehnte Bilder, Haufen von Mappen, vollgestrichelte Skizzenbücher, gestapelte Druckgrafiken, Lithos, Bildchen und Kartons. Sie bemalte alles, was sich bemalen ließ. Mit Papier ging man damals nicht so verschwenderisch um wie heute.
    Eine richtige Küche gab es nicht, zwischen Farbtöpfen, Bechern mit Pinseln und Papier standen Kaffeetassen, flache Tüten mit »mocca fix« und russische süße Sahne in kleinen, metallenen Büchsen, manchmal lagen Pellkartoffeln auf einer Zeitung. Trockenes Brot bot sie an wie einen

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