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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Biermann
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Äuglein, witziger Nase aus einer Art Pappmaschee, innen mit Stoff bezogen. Der Schweizer Heinrich Strub hatte die Masken entworfen und bemalt. Abgesehen davon, dass meine drückte und immer wieder korrigiert werden musste, sollten wir mit dem Körper besonders groß spielen. Wie spielt man groß, wenn man nur 1,50 Meter misst und 45 Kilo leicht ist? Die Bühne ist zehn Meter lang. Macht man große, weite Schritte, sieht es aus, als liefe man stundenlang; geht man ganz langsam, mit kleinen Schritten, wird Müdigkeit sichtbar, ein langer Weg ist zurückgelegt. Zwar eine gewisse Künstlichkeit, jedoch ganz einfaches, körperliches Theater. Dabei entdeckte ich, dass ich hinter der Maske meine Hemmungen vor großen Gesten verlor. Niemand sah die Augen, wenn der Mund lachte, also musste ich einen Glücksmoment mit dem ganzen Körper ausdrücken. In einer Szene gibt Simon seiner Grusche eine Kette als Verlobungsgeschenk. Mit dieser Kette in der Hand bin ich über die ganze Bühne getanzt. Ohne Maske hätte ich derart raumgreifend nie zu tanzen gewagt – ich mach mich doch nicht zum Leo. So aber fühlte ich mich wie der Vogel Strauß, man sieht mich nicht, jetzt kann ich mich alles trauen. Da ich lange Hosen und darüber einen Rock trug, konnte ich mich auch breitbeinig hinsetzen, mir mit dem Rock großzügig Luft zufächeln – es wirkte nie obszön. Kostüm und Maske gaben mir ein völlig neues Körpergefühl.
    Eine Woche vor der Premiere tauchte Paul Dessau im Theater auf. Er hatte die Musik zu Brechts Liedern komponiert und ein Instrument erfunden aus acht unterschiedlich gestimmten Gongs, die in Klaviermechanik bedient werden. Kombiniert mit Flöte, Geige und Schlagzeug, erzielte das sehr eigene Wirkungen.
    Als Paul Dessau das kleine Foyer unseres Theaters in der Zimmerstraße betrat, wuselte alles aufgeregt herum. Es kamen schließlich nicht alle Tage Komponisten zu uns, und dann noch ein so bedeutender. Er sah genauso aus, wie ich mir einen Menschen vorgestellt hatte, der bei Brecht arbeitet: dunkelblaues Leinenhemd, weiße Hosen, weiße Schuhe, eine Leinenjacke um die Schultern gelegt. Dazu den typischen Brecht-Haarschnitt. In seiner Strenge erinnerte er mich an den Mao-Look, kein Kettchen, keinen Schmuck, keine Kinkerlitzchen.
    Dessau ist schuld, dass ich mir Jahre später in Florenz das teuerste Hemd meines Lebens kaufte. Ich wollte, seit ich ihn gesehen hatte, so ein dunkelblaues Leinenhemd haben, das gab es aber nur für Männer. Ich kaufte es, ließ es ändern und bezahlte dafür fast noch mal so viel wie den Kaufpreis. Ich nannte es mein Brecht-Hemd, und bis heute bin ich diesem Hemdenstil treu geblieben.
    Ich war schon im Kostüm und unglaublich aufgeregt, als Dessau mich bat vorzusingen. Dann entschied er: »Sie singen a capella. Bei dieser jungen Frau, diesen einfachen, bodenständigen Texten muss alles pur sein, das wirkt am stärksten.« Dessaus Stimme veränderte sich je nach Situation: Sie klang klar, wenn er laut war, privat eher knarrig, und wenn er vorsang, so blechern wie eine Trompete. Einen ganzen Vormittag lang probierte er mit mir Grusches Lieder auf der Wanderung .
    »Da dich keiner nehmen will
    Muss nun ich dich nehmen
    Musst dich, da kein andrer war
    Schwarzer Tag im magern Jahr
    Halt mit mir bequemen ...«
    Ich begann, etwas von der Figur zu begreifen: Die Grusche hat von einem Moment zum anderen entschieden, ohne Plan, im Gegensatz zu der Gouverneursfrau. Sie hat nicht bedacht, dass durch dieses Kind ihr ganzes Leben durcheinander gerät: die Verlobung gelöst, weil Simon glaubt, es sei von einem andern; sie marschiert fünfeinhalb Tage lang durch eine Gegend, in die sie nie wollte, um das Kind, das niemand haben will, irgendwo unterzubringen.
    Der Sänger, Thomas Langhoff spielte ihn, sagt an einer Stelle:
    »Hört, was sie dachte, aber nicht sagte:
    Ginge es in goldnen Schuhn
    Träte es mir auf die Schwachen
    Und es müsste Böses tun
    Und könnte mir lachen.
    Ach, zum Tragen, spät und frühe
    Ist zu schwer ein Herz aus Stein
    Denn es macht zu große Mühe
    Mächtig tun und böse sein ...«
    Paul Dessau hatte dazu eine wunderschöne Melodie geschrieben. Spontan bestimmte er: »Das ist wie ein kleines Volkslied, das singt die Antoni auch!«
    Ganz leise habe ich es unter der Maske gesungen.
    Dieser Vormittag, an dem Paul Dessau allein mit mir arbeitete, mir nahe brachte, wie man ein Brecht-Lied interpretiert, eröffnete mir ganz neue Perspektiven. Ein Satz dieses Mannes pflanzte sich

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