Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Schauspieler. Über einen gelungenen Einfall gluckste er vergnügt in sich hinein, mimte verschmitzt den Erstaunten. Passte ihm etwas nicht, tat er beleidigt. Oder er spielte zornig vor, beharrte auf seiner Idee, und wir hassten ihn für Sekunden wegen dieser kleinen Schikanen. Bei der nächsten Probe probierten wir etwas Neues oder noch einmal das Alte – er habe sich eben geirrt, das kommt doch vor, oder?
Das war seine Methode: Den Widerspruch der Schauspieler herausfordern, um durch Provokation zur Lösung einer Szene zu kommen. Durch seinen französischen Akzent klangen die Betonungen ungewohnt lustig, doch verriet uns seine Stimme den Pegel von Zufriedenheit oder Unmut über unsere Leistungen.
Benno Besson sprach mit uns voll Freundlichkeit, Wehmut, Seligkeit, Zorn, Trauer – und immer mit Zuneigung. Er hörte zu, und er liebte seine Schauspieler. Vielleicht war Besson der letzte wirklich große Theatermann, der ein Team zusammenführen, einen besonderen Spielplan kreieren und die Fantasie der Schauspieler zum Sieden bringen konnte. Im Gedächtnis bleiben mir seine wohltuende Wärme, sein überbordender Einfallsreichtum, seine künstlerische Bändigung auf der Bühne.
Ich spielte die schnell sprechende, freche Frau des Sganarelle, den Rolf Ludwig gab, spielte die Sonja in Avantgarde von Katajew, einem heißdiskutierten Schriftsteller jener Zeit, unter der Regie von Fritz Marquardt. Mit dieser Rolle wurde ich von der Redaktion theater heute als interessanteste junge Schauspielerin des Jahres gekürt. Und dann in Carlo Gozzis König Hirsch . Für Molière und Gozzi hatte Besson einen völlig neuen Spielstil entwickelt. Er griff auf uraltes Wissen um Volksbelustigung und Jahrmarktspektakel zurück, zauberte die klassischen Muster von Gut und Böse auf die Bühne – wie er später auch auf hoher artifizieller Stufe Brechts Guten Menschen von Sezuan inszenierte.
Improvisieren vergisst man nach der Ausbildung schnell und gern, es gibt genügend Texte, an die man sich hält. Bei Besson aber war dieses Können gefragt. Carlo Gozzi hatte die Handlung seines König Hirsch nur skizziert, die Schauspieler sollten innerhalb dieses Gerüsts variabel agieren. Ich bekam die herrliche Rolle des Gigolotti, Diener des Zauberers Durandarte. Wieder hatte Besson einen Maler engagiert. Ronald Paris entwarf für unsere Kostüme riesige, grellbunte Figurinen im Stil der Commedia dell’arte, auch das Bühnenbild – eine gemalte Landschaft, wie ich sie auf einer Kunstpostkarte von Canaletto gesehen hatte.
Mein Gesicht war hinter einer Maske aus Stoff verborgen. Ich lag bereits eine Viertelstunde vor Einlass der Zuschauer unter einer Decke auf der Bühne. Durch ein kleines Loch konnte ich die Zuschauer sehen. Ich schwitzte unter der Maske und der Decke. Irgendwann schlief etwas ein, die Hand, ein Bein ... So vorsichtig wie möglich bemühte ich mich, das Kribbeln zu beherrschen, aufmerksame Zuschauer bemerkten selbst das, tauschten ihre Beobachtung aus. An ihrer Sprache konnte ich sie einordnen. Nach kurzer Zeit stiegen Lampenfieber und eine Brise Hysterie in mir auf, weil es immer wärmer wurde und der Sauerstoff immer weniger. Ein Wecker erlöste mich zu Vorstellungsbeginn, und dann fühlte ich mich wie ein Rennpferd am Start, ich legte los. Was für eine Erlösung! Der Text sprudelte wie befreit heraus. Wichtig war, dass die ersten vier Sätze ankamen, dass ich Reaktionen des Publikums spürte, aha, sie begreifen, ich konnte meinem Affen Zucker geben, sie sahen ja nicht, was ich hinter der Stoffmaske sah.
»Hier bin ich, meine verehrten Herrschaften, Ihnen große Dinge zu erzählen ...«, lautete der vorgegebene Text, dann wertete ich die Tagesnachrichten aus, Politik und Wetter. Das Publikum reagierte und amüsierte sich. Schnelle Einfälle waren gefragt, schnelles Schalten, Schlagfertigkeit, eine Art Mutterwitz.
Schon auf den Proben waren meine Hemmungen verflogen, und bei der Premiere verlor ich sie vollends. Inspiriert und ermutigt von Besson, gelang es mir, meine eigenen Gedanken respektlos ans Publikum zu bringen. So wuchs der Gigolotti weit über den eigentlichen Bühnentext hinaus, wurde zum Kommentator kleiner und großer Misslichkeiten mit tagesaktuellem Bezug. Eine Rolle also, an der die Arbeit nicht aufhörte, bei der jeder Abend eine Premiere war. Kamen die Gags an? Verstand man die Anspielungen? Besson war unersättlich in seinen Erwartungen. Er forcierte unsere ständige Auseinandersetzung mit dem Stück, mit
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