Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
September 1990. Johanna Schall und ich waren mit unserem Brecht-Programm und zu einem Workshop für zehn Tage nach London eingeladen. Als wir am Einreise-Schalter in London-Heathrow unsere DDR -Pässe, aber keine Arbeitserlaubnis vorzeigten, schien unsere Reise zunächst beendet. Man verbrachte uns in einen Raum mit dem Schild »Emigration«, in dem ein paar Farbige auf der Erde saßen, als hockten sie schon ewig dort. Luke Dixon, der Regisseur, der uns eingeladen hatte, stand draußen und hatte keine Ahnung über unseren Verbleib.
Wir baten, die DDR -Botschaft in London anrufen zu können. Nach etlichen Versuchen bekamen wir eine Frau an die Leitung, die uns mitteilte, dass alle Mitarbeiter ihre Koffer packten und sich niemand mehr für unser Problem zuständig fühlte. Wir flehten die Flughafen-Leute an, mit der bundesdeutschen Botschaft telefonieren zu dürfen und erfuhren dort, nur mit bundesdeutschen Pässen könne man uns helfen und eine Arbeitserlaubnis ausstellen.
Wie wird man Bundesbürger, wenn man auf dem Flughafen in London festsitzt?
Wir baten den Botschaftsmenschen, für uns die Künstleragentur der DDR zu informieren, damit man uns von dort aus helfe. Vier Stunden später landete Frau Tatsch von der Künstleragentur in London. Man erlaubte uns, den Passbildautomaten zu benutzen. Mit den völlig verstressten Fotos fuhr Frau Tatsch zur Botschaft der Bundesrepu blik Deutschland und beschaffte Pässe mit unseren Namen. Wir mussten allerdings versprechen, sie sofort nach unserer Rückkehr in Berlin für ungültig erklären zu lassen.
Mein Pass liegt heute noch bei mir.
Gelandet waren wir morgens um acht Uhr, aus der »Emigration« entlassen wurden wir gegen 17 Uhr.
Kaum befreit, telefonierte Johanna mit der deutschen Presse. Die vermeldete am nächsten Morgen: »Brecht-Enkelin in London festgehalten«.
Als Junge spielte ich Alte, nun spiele ich junge Alte
Fasse ich die Kritikermeinungen zu meinem Aussehen zusammen, lautet die Essenz: blond, strubbelig, spitznasig, frech, also immer mehr Clown als eine tolle Frau. In den Alte-Frauen-Rollen werde ich als ungestüm, anrührend, warmherzig apostrophiert. Die »Ost-Masina«, das war das heißeste Kompliment.
1995, da war ich fünfzig, spielte ich, wie gesagt, als Gast im Deutschen Theater im Wienerwald die sechsundsechzigjährige Mutter von Guntram Brattia und die Tochter von Käthe Reichel. Ich war ziemlich stark geschminkt und trug eine Perücke mit Dutt.
An einem Abend wollte Jo Baier mich nach der Vorstellung in der Kantine treffen, weil er mich für die Verfilmung von Strittmatters Laden im Blick hatte. Ich schminkte mich hastig ab, zog mich um und ging in die Kantine. Sah den Produktionsleiter, mit dem ich zusammen studiert hatte, an einem Tisch mit anderen sitzen. Ich stellte mich diskret und vage lächelnd in die Nähe dieses Tisches, es wurde gerade Bier und Kaffee serviert. Der Produktionsleiter lächelte zurück, ich wartete. Jo Baier drehte sich fragend zu mir um: »Ja?« Und mehr in die Runde als zu mir: »Wir warten auf Frau Antoni.«
»Die bin ich«, sagte ich.
Ihm entgleisten die Gesichtszüge. Offensichtlich bekam er die Figur auf der Bühne und die private vor ihm nicht zusammen. Sah ich jünger, älter, anders aus, als er sich das vorgestellt hatte? Während ich noch rätselte, sagte er: »Die Verwandlung ist ja fantastisch! Sie würden auch Latex und Perücke in Kauf nehmen?«
Natürlich stimmte ich sofort zu, denn dass ich an dieser Rolle viel Freude haben würde, war klar.
Schon mit vierzig Jahren hab ich ältere Frauen gespielt. Ich war die Mutter von Ekkehard Schall im Baal , die verbiesterte Schwiegermutter im Selbstmörder mit Martin Seifert, die alte Frau Wurm in der Radikal-Komödie Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos . Ich spielte die Omamutter in dem Film Kindheit, da war ich 41, und dann, mit 53 Jahren, die Eineinhalb-Meter-Großmutter im Laden. Das alles waren Frauenfiguren zwischen 60 und 86 Jahren.
So haben mich auch die Zuschauer weit vor der Zeit alt wahrgenommen. Als mein Sohn etwa dreizehn war, fragte ihn ein behandelnder Arzt: »Hast du eine Oma am BE ? Ich war gestern im Theater, eine köstliche Alte ...« Mein Sohn war total entsetzt.
Das erzähle ich ohne Bitterkeit. Vielleicht hat meine fehlende Eitelkeit die Lust auf diese Art Veränderung und Verwandlung befördert. Zudem war für mich schon früh ungemein reizvoll, das Alter, vor dem wir uns fürchten, mit jugendlicher Kraft darzustellen.
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