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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Biermann
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Alte Frauen spielen, die vital sind und noch was zu sagen haben – vielleicht hat mir das mein eigenes Altwerden sympathisch gemacht.
    Ich empfand diese Besetzungen als Glück, sind das doch Rollen, die man durch tägliches Beobachten erfahren und umsetzen kann. Obendrein haben die Zuschauer Spaß am Zugucken wie ich am Spielen. Zum Beispiel in Doña Rosita bleibt ledig : Im letzten Bild war ich 84 Jahre alt, und so lief ich auch, also definitiv anders als im ersten Bild: schwerer, watschelnder. Ich wuchs da rein, spielte ohne Sperre, ohne Angst uralte Damen.
    Das Alter hat eine Lebenskomik, die ich liebe. Alte Menschen können so hinreißend komisch sein, sie wirken wie alte Kinder. Geradezu magnetisch fühle ich mich von ihnen angezogen, habe ihre Gestik, ihre Mimik, ihre Eigenheiten beobachtet, studiert.
    Brachte meine Schwiegermutter zum Beispiel eine Kaffeekanne und die Torte ins Zimmer, stieß sie wie eine Halbstarke ohne hinzuschauen mit dem Fuß die Tür zu.
    Erzählte sie etwas oder gab mir Ratschläge, lehnte sie häufig stehend am Kachelofen, rutschte jedoch beim Fortgang der Rede, immer mit dem Rücken am Ofen, tiefer und tiefer in die Hocke. Erst als sie auf der Erde saß, fiel ihr auf, dass sie nicht mehr stand, und sie verlangte: »Kann mir mal jemand aufhelfen?«
    Eine andere Beobachtung: Kam meine Schwiegermutter nach Hause, musste sie häufig ganz schnell etwas erzählen. Dabei ging sie hin und her, packte ihre Einkäufe aus, hielt eine ganze Weile den Wohnungsschlüssel in der Hand. Plötzlich bemerkte sie das, er störte sie, und warf ihn irgendwohin, ohne ihren Redefluss zu unterbrechen. Zehn Minuten später suchte sie ihn in der ganzen Wohnung.
    Physische Prozesse belästigen die Alten. Meine Schwiegermutter sagte: »Sport ist Mord. Man muss sich nicht überflüssig bewegen, man hat einen Kopf, um Bewegungen zu minimieren.«
    Alte Frauen, die ein Leben lang schwer gearbeitet haben, laufen oft breitbeinig. Das liegt an den steifen Hüften. Vielleicht auch an der mittlerweile toten, weil nicht mehr erotischen Zone. Handtaschen tragen sie nicht unter dem Arm oder mit einem Schulterriemen, sondern schlenkern sie am Henkel.
    Vor den Dreharbeiten zum Laden setzte ich mich in Parks neben alten Damen auf eine Bank, beobachtete ihre Fußstellung, wie sie ihre Handtaschen festhielten, wie sie vergaßen, den Mund zu schließen, wie sie Vögel fütterten, vor sich hin erzählten, auch böse wurden. All ihre Gesten und Hilflosigkeiten studierte ich.
    In der Straßenbahn forderte einmal ein Kontrolleur den Fahrschein einer alten Frau. Sie sagte seelenruhig, sie hätte heute die falsche Tasche mit, aber morgen nähme sie wieder die andere, wo der Fahrschein drin sei. Dabei baumelte sie mit ihren kurzen Beinen und wickelte einen Bonbon aus. Der Kontrolleur ging sprachlos weiter.
    Alte Leute sind pur, das gefällt mir so. Diese göttliche Naivität, die wie aus der Trickkiste kommt, weil das Leben sie genug belehrt hat. Sie müssen sich und anderen nichts mehr beweisen. All diese kleinen Eigenheiten zu beobachten, finde ich lustig. Und für meinen Beruf ungemein hilfreich.
    Verwandlung besteht darin, dass man sich nicht verwandelt, sondern überzeugend verschiedene Charaktere darstellt. Das wird von Sir Laurence Olivier kolportiert. Jeder geht anders an eine Figur. Armin Mueller-Stahl sagte mal in einem Interview, dass für ihn zuerst die Schuhe wichtig seien. Die gäben ihm die Haltung für die jeweilige Rolle. Stimmen die Füße, stimme auch der Kopf.
    Erarbeite ich am Theater eine Rolle, ist für mich die wichtigste Frage: Welche Perücke bekomme ich, welches Kleid, welche Handtasche?
    Mit der Perücke wechsle ich sozusagen den Kopf. Trage ich ein Kleid, weiß ich den Gang. Nehme ich eine Tasche in die Hand, denke ich mir deren Inhalt, der ja meistens eine Geschichte hat, und meine Fantasie wird so groß wie ein ganzes Altersheim.
    Es gab am Deutschen Theater und dem Berliner Ensemble großartige alte Damen. An der Spitze die Oberladygrandedametraumfrau Inge Keller. Wie sie in den Gespenstern mit ihrer Diktion eine Aura verbreitete, dass man sofort viel lieber mit Heine oder Kleist leben wollte als im Sozialismus, das war einmalig. Diese Frau mit ihrem Charisma, mit ihrer Contenance, mit ihrer vollendeten Sprachkultur, dem in jeder Hinsicht aufrechten Gang, diese Frau ist einmalig.
    Ich erinnere mich an die glockenhelle, fast kindliche Stimme der Elsa Grube-Deister in der Schönen Helena und an einen

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