Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Volksliederabend viele Jahre später. Sie sang wie ein Mädchen so anmutig, so lyrisch.
Ich denke an den garstigen, einmaligen, Thomas Bernhardschen österreichischen Humor, an den Biss der Erika Pelikowsky. Nach der Premiere des Hofmeister sagte sie zu mir: »Schatzi, die Welt besteht fast nur aus Idioten, schad drum, aber gut, dass wir net dazughörn.«
Bei den Dreharbeiten zu Wege übers Land konnte ich sie beobachten; unglaublich, mit welcher Klarheit und Härte sie ihre Figur durch die fünf Teile des Films führte. Die Weisheit eines ganzen Lebens lag in ihrem Gesicht. In ihren Mundwinkeln sah man den Spott, sie stand über den Zuständen dieser Gesellschaft mit einer herrlichen Arroganz, mit einer Weltfraulichkeit, die den Triumph vor sich hertrug, zur Not nicht dazugehören zu müssen.
Und dann Käthe Reichel, diese kleine Frau mit der schrillen Stimme, die mir immer schreiend in Erinnerung ist, permanent politisch engagiert, ständig für eine bessere Welt kämpfend. Die Skurrile, die ihre Finger bewegte, als hätte sie ein Orchester zu dirigieren. Sah ich diese Frauen spielen, hätte ich knien können in Verehrung.
Dabei fällt mir ein, sie alle hatten verrückte große Männer: Inge Keller war mit Karl-Eduard von Schnitzler verheiratet, Erika Pelikowsky mit Wolfgang Heinz, Elsa Grube-Deister mit Herrn Li, einem Chinesen, Käthe Reichel gehörte zu Brechts weiblichem Umfeld.
In diese Reihe gehört unbedingt Gisela May, die damals als Weigel-Nachfolgerin gehandelt wurde. Sie pflanzte in mir das Saatkörnchen Gesang. Denn schon in Potsdam verzauberte mich diese tiefe, unerbittliche Stimme, die Brecht sang: hart, lüstern, charmant. Ich glaube, ich habe alle Platten, die sie je besungen hat. Damals ahnte ich nicht, was es an Kraft, Individualität und Persönlichkeit braucht, einen Brecht-Abend zu stemmen. Sie gestaltete viele dieser Abende. Und jede, die nach ihr Brecht sang, wurde an Gisela May gemessen.
Diese Schauspielerinnen brachten mir gutes Altern und das gute Alter nahe. Ihre Geheimnisse, die in ihren Bewegungen, in ihrer Aura lagen, waren für mich wie der Schlüssel zu einer Schatzkiste, wie ein lebendiges Lehrbuch. Und diese Rollen haben mir den Erfolg beim Publikum eingebracht. Warum also sollte ich deshalb gekränkt oder bitter sein? Nein, stolz bin ich darauf.
Eine Sternstunde: Der Laden
Im Jahr 1995 verfiel das Theater in eine Art Totenstarre. Zu Pfingsten hatte Heiner Müllers Inszenierung von Brechts Arturo Ui Premiere, es war sein Requiem, denn am Jahresende erlag er seinem Krebsleiden. Nach ihm übernahm Martin Wuttke die Intendanz des Hauses am Schiffbauerdamm, danach Stephan Suschke. Fritz Marquardt inszenierte sehr dunkel, kein Stern des Theaterhimmels glänzte mehr, der Spielplan war dünn, das einstige Berliner Ensemble ein zusammengewürfelter Haufen Leute mit Gästen aus Ost und West.
Der Filmregisseur Jo Baier öffnete mir den Himmel. Ich sollte die Anderthalb-Meter- Großmutter in der Strittmatter-Verfilmung des Laden spielen – ein historischer Fernsehfilm in drei Teilen, eine Traumrolle. Zum ersten Mal waren meine Einmeterfünfzig von dramaturgischem Vorteil. 1997 sollte es losgehen.
Als ich von Baiers Vorhaben erfuhr, wunderte ich mich: Was weiß ein Regisseur aus dem tiefsten Bayern von Erwin Strittmatter? Wir waren ja mit Tinko und Ole Bienkopp groß geworden – aber er?
Um es vorwegzunehmen: Es wurde für alle Beteiligten eine wunderbare Arbeit und ein großer Erfolg. Die ARD -Programmdirektoren wollten den Dreiteiler aus Angst vor zu wenig Quote zwar in die Nacht versenken, dann wurde er – als Kompromiss sozusagen – auf ARTE an drei Abenden ab 20.45 Uhr, ein paar Tage später in der ARD ab 21 Uhr gezeigt. Er erhielt den Bayerischen Filmpreis, den Grimme-Preis, und für Martin Benrath gab es noch den Deutschen Fernsehpreis.
Aber zurück auf Anfang: Baiers Produktionsleiter lud mich zum Kennenlernen nach München ein, dann wurde gecastet. Traumrollen brauchen Partner, und ich war glücklich über die Wahl: Dagmar Manzel, eine Wahnsinnsfrau, ein Urgestein der Schauspielerei, war meine Tochter; Jörg Schüttauf mein staunender, blauäugiger, jähzorniger Schwiegersohn; Hermann Beyer der verzweifelte, tragische Nachbar, großartig auch Ingo Naujoks als mein unehelicher Sohn – alles so hinreißend schräge Typen. Und diese wunderbaren Kinder, allen voran der kleine Ole Brandmeyer als erster Esau, denn in jedem Teil gab es einen neuen Esau, der sich aus dem
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