Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
breitschlagen, überzeugte auch Jenny, obwohl unsere Kalender voll waren.
An besagtem Tag fuhren wir über die Brandenburger Autobahn, weiter durch kleine Dörfer, durch noch kleinere Dörfer, und als wir kaum noch eine menschliche Ansiedlung erwarteten, standen wir vor einer Kirche. Sie war leer bis auf einen alten Mann, der an einem Weihnachtsbaum herumfummelte, uns kurz »Tach« sagte, auf alle anderen Fragen, auch auf die nach jener Dame, jedoch keine Antwort wusste.
Jenny und ich hatten schöne weiße Blusen an, es war sehr kalt, die Kirche ungeheizt. Wir froren und warteten. Versuchten erneut, den alten Mann zum Reden zu bringen, sinnlos. Plötzlich hielten auf dem Kirchplatz zwei Reisebusse mit bayerischen Kennzeichen. Männer in dicker Wintermontur, Frauen in Pelzen und Stiefeln quollen heraus, kämpften in der Kirche um die Plätze. Die Dame, mit der ich telefoniert hatte, begrüßte uns kurz, »schön dass Sie hier sind«, von irgendwoher erklang O Tannenbaum , dann: »Bitte, Frau Antoni, und ach ja, bitte auch Sie, Frau Antoni, Sie können loslegen.«
Offensichtlich handelte es sich um eine Weihnachtskaffeefahrt, und wir waren der kulturelle Höhepunkt. Wir lasen also, aus unseren Mündern wehten weiße Wolken, die Kinnladen zitterten vor Kälte, wir griffen zu unseren Mänteln, um nicht zu erfrieren. Wir lasen tapfer, allerdings verkürzten wird das Programm ein wenig, als wir wahrnahmen, dass zwei der Zuschauer bereits schliefen. Es gab eine Art verhaltenen Applaus, man befand sich schließlich in der Kirche, und alles stürzte zurück in die warmen Busse. Die Dame bedankte sich wortreich, drückte uns einen Bildband über Brandenburg und ein Kuvert in die Hand und verschwand. In dem Kuvert fanden wir weder einen Scheck noch Bares, sondern eine schlichte Weihnachtskarte. Am nächsten Tag, drei Tage vor Heiligabend, hatte ich eine saftige Erkältung,
Schnipsel aus dem Familiennähkästchen
Gleich in den ersten Winterferien nach dem Mauerfall fuhren wir zum Karneval nach Venedig – Jenny tanzte als Pierrot durch die Straßen, ihr Bruder gefiel sich mit Dreispitz, schwarzer Maske und Umhang als Zorro. Von nun an reisten wir jeden Sommer in ein anderes Land: In Schottland lernten Jacob und Jenny, sich auf Englisch durchzufragen und bed und breakfest zu bestellen. Norwegens Fjorde bestaunten wir von einem Hurtigrouten-Schiff aus. In Island starteten wir todesmutig eine Rafting-Tour auf einem wilden Fluss. An einem Geysir fanden wir Büchsen mit Kakaopulver, bereitgestellt für die Touristen; das kochendheiße Wasser dafür sprudelte aus der Felswand. In Südafrika wünschte sich Jenny, das Gefängnis auf Robben Island zu besuchen, in dem Nelson Mandela gesessen hatte – heute ein Museum. Auf dem Schnellboot zur Insel beobachteten wir Haie und Wale. Wir waren glücklich, Zeit füreinander zu haben und den Kindern die Welt zeigen zu können.
Auf Reisen und Festen, Taufen, Geburtstagen und Jubiläen werden, wie in jeder Familie, Anekdoten erzählt, darunter sogenannte Familienrenner. Viele drehen sich um die Kinder.
Einmal feierte ich mit meinem kleinen Sohn und mit »Steppis«, meinen besten Freunden, den Heiligabend. Mein Mann kehrte erst am folgenden Tag von großer Reise zurück. Jacob war eineinhalb Jahre alt. Er spielte vor sich hin, robbte durch die Wohnung, wir Erwachsenen erzählten und lachten, bis wir plötzlich bemerkten, dass das Kind verschwunden war. Wir riefen nach ihm, suchten überall, guckten in jede Ecke, gerieten immer mehr in Panik – nichts. Bis wir ihn endlich entdeckten: Neben dem Weihnachtsbaum stand das Geschenk der kleinen Tochter unserer Freunde, ein Puppenbett mit blau-weiß-karierter Bettwäsche. Darin lag Jacob in seligem Tiefschlaf.
Jenny, sie war etwa drei, verlangte auf dem Weihnachtsmarkt »das Essen, das immer weniger wird«. Wir suchten lange, bis sie es mit einem Begeisterungsschrei gefunden hatte: Zuckerwatte.
Im Kindergarten malte sie blaue Schneemänner, rote Tannenbäume und gelbe Tiere, weshalb ihre Einschulung infrage gestellt wurde. Wir sollten mit dem Kind eine Psychologin konsultieren. Sie wollte ein EEG erstellen, was leichter gesagt, als getan war, denn Jenny wehrte sich mit Händen und Füßen. Erst als wir ihr erklärten, dass die Ärztin wissen wolle, ob Jenny wirklich schon Motorrad fahren könne – weshalb nun viele Strippen an ihrem Kopf befestigt werden müssten, wie ein Helm –, willigte sie aus purer Neugier ein. Und die Ärztin konnte uns
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