Im Leben wird dir nichts geschenkt.
fast am Ende. Tu allen einen großen Gefallen, dachte ich, und verschwinde. Sei keine Bürde für deine Kinder, deine Mutter oder deine Freundinnen. Inmitten meines alkoholischen Nebeldunstes glaubte ich zu wissen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Genau das wollte ich, und zum ersten Mal seit langer Zeit glaubte ich, etwas Gutes zu tun. Ich dachte an Marilyn Monroe, die das Gleiche getan hatte und gestorben war, es war okay.
Ich hatte keinen Abschiedsbrief oder einen letzten Willen hinsichtlich meiner Beisetzung hinterlassen, obwohl ich eigentlich vermeiden wollte, dass in der Kapelle gesungen würde. Sollte im Falle einer Feuerbestattung meine Asche hier über dem See ausgestreut oder in das Haus meiner Kindheit in Rødovre zurückgebracht werden? War mir völlig egal. Da war diese böse Stimme in mir, die mir zuflüsterte, dass das alles keine Bedeutung hatte: Du bist ein schlechter Mensch. Niemand mag dich, du tust nichts Nützliches auf diesem Planeten, also zieh die Sache durch! Und du hast nicht die Kraft, dagegen anzukämpfen, also mach einfach einen Abgang. Die Stimme hatte recht. Das Einzige, was falsch war, hatte mit meiner Lebensweise und der Vernachlässigung meiner Familie zu tun. War es wirklich schwieriger, sich scheiden zu lassen, eine Reha-Klinik aufzusuchen und, wie man so sagt, die Kurve zu kriegen? Ja. Es wäre eigentlich viel besser gewesen, hier am See ins Wasser zu gehen, wenn mich nicht schon beim Gedanken an das eisige Wasser gefröstelt hätte. Pillen und Alkohol erschienen dann doch am besten, weil sie bequem zur Hand waren, und es einfacher schien, langsam zu entschlafen.
Ich schloss kurz die Augen und sah meine Kinder vor mir. Sie verdienten etwas Besseres, als was ich ihnen je zu bieten hatte. Im Stillen verabschiedete ich mich von ihnen. Das Schlafzimmer in der Nähe bot einen Panoramablick auf den See. Dort lief irgendwo ein Radio, und ich konnte Celine Dion »A New Day Has Come« singen hören. Ihre kristallklare Stimme ertönte aus den Lautsprechern und drang ins Badezimmer, doch inzwischen schien sie von viel weiter weg zu kommen. Sie besang das größte Glück auf Erden. Für mich würde es keinen neuen Tag geben. Dies war mein letzter Morgen auf dem Planeten.
Ich war so gerade eben noch bei Bewusstsein und fühlte mich zunehmend entspannt. Ich hatte noch den Geschmack der vielen Zigaretten und vom Jack Daniels’ auf den Lippen, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, was für ein Tag es war, auch wenn die Kinder offenbar in der Schule waren. Ich war ein bisschen enttäuscht, dass es nicht schneller vorbei war, doch zumindest hörten die Schmerzen im Körper auf – nur dieses leichte Flattern im Magen. Ich war jetzt ziemlich benommen – frei von Problemen, frei von Schuldgefühlen, frei von Lügen. Die Welt kam ins Wanken, und die Beine versagten mir ihren Dienst. Ich sah, wie die Frau im Spiegel verschwand, und lächelte, als ich zu Boden ging. Ich war glücklich. Und ich dachte wieder an Marilyn – vielleicht hatte sie das Gleiche empfunden.
KAPITEL EINUNDZWANZIG
Langsames Erwachen
E s war, als käme man auf der anderen Seite aus einem schwarzen Loch. Geräuschlos. Ich konnte nicht mehr als schemenhafte Umrisse sehen und nichts riechen. Ich wirbelte unablässig herum. Schmerzen. Phantomschmerzen, so als könnte ich wieder fühlen. Und dann kamen auch die Geräusche. Was war da los? Irgendetwas passierte gerade mit mir. Das Gefängnis der Dunkelheit wurde von einem blendend grellen Licht gesprengt, das mir wie Rasierklingen in die Augen drang. Das musste der Tod sein, und ich war glücklich.
Doch wieso hörte ich dann Stimmen? Ich verstand nicht, was sie sagten, doch allmählich dämmerte mir, dass dieses Licht kein himmlischer Glanz von Gott war, mit dem er mich nach dem Elend der irdischen Existenz willkommen hieß. Vielmehr hielt mir mein Arzt vom Luganer See eine Lampe in die Augen und fragte mich, wie ich mich fühlte. Ich antwortete jeweils mit einem leisen Ja oder Nein. Abrupt hielt er den Mund dicht an mein Ohr, und sein Atem war das Erste, was ich tatsächlich fühlte, nachdem ich wieder zu Bewusstsein kam, zuerst die Wärme und dann den freundlichen, beruhigenden Klang seiner Stimme. »War das ein Selbstmordversuch?«, fragte er mich leise.
Gute Frage. In der Schweiz musste jeder Selbstmordversuch gemeldet werden, und derjenige oder diejenige landete unweigerlich in einer psychiatrischen Anstalt. Mich interessierte im Moment nur, wo die
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