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Im Leben wird dir nichts geschenkt.

Im Leben wird dir nichts geschenkt.

Titel: Im Leben wird dir nichts geschenkt. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Nielsen
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widerstehen konnten, uns zu bedienen und das Päckchen danach wieder so zu sortieren, dass es unangetastet aussah, doch das war okay, er wollte uns nur ein bisschen foppen.
    Und meine Mutter … mein Gott, sie waren seit sechsunddreißig Jahren zusammen. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, und ich drückte mich in den Autositz. Mama hatte mich in Spanien vergeblich zu erreichen versucht und dann Raoul angerufen. Sie erklärte ihm, sie müsse mich dringend sprechen. Ich merkte, dass ich kurz vor einem hysterischen Anfall war. Wäre Raoul nicht schon losgefahren, wäre ich glatt herausgesprungen. Ich bekam kaum noch Luft. Wieder schlug ich mit dem Kopf gegen die Armaturen. Unmöglich, die Show zu absolvieren. »Ich muss jetzt nach Dänemark!« Wieder schluchzte ich los, doch der Vertrag mit der Fernsehanstalt war unerbittlich.
    Die Produzenten hatten uns gesagt: The show must go on . Man musste mir das Make-up erneuern. Meine Tränen hatten die Mascara verschmiert, und meine Augen waren rot geschwollen. An den Verlauf der Sendung kann ich mich überhaupt nicht erinnern, nur dass sie nachts um halb eins zu Ende ging. Umso mehr ist mir der schmerzliche Verlust, den ich empfand, haften geblieben. Wir hatten noch einen weiten Heimweg vor uns.
    Von Rom nach Lugano sind es sechshundertfünfzig Kilometer, und ich war die Strecke unzählige Male gefahren. Ich wusste, dass die Strecke ohne lange Pausen achtzehn Stunden in Anspruch nahm. Diesmal wurde mir die endlose Zeit auf der vertrauten Route unerträglich. Während der ganzen Fahrt telefonierte ich mit meiner Mutter, weinte und redete, redete und weinte.
    Als wir schließlich in der Villa eintrafen, lief ich trotz der Übermüdung unruhig auf und ab und fragte mich, wie ich den Kindern den Tod ihres Großvaters beibringen sollte. Ich musste etwas Ruhe finden und legte mich im Wohnzimmer aufs Sofa, schaffte es aber nicht, abzuschalten. Am Abend stand ein weiterer Termin an, eine Tanz-Show, und ich hatte vertraglich sechzehn Episoden übernommen. Ich sollte Tänzer zwischen ihren Auftritten interviewen – auf leichte, unbeschwerte Art. Auch hier musste ich meinen Beitrag für die bevorstehende Folge aufnehmen, erst am Morgen danach konnte ich nach Dänemark fliegen, um meiner Mutter beim Begräbnis zur Seite zu stehen.
    Nach dem Gottesdienst in der Kirche wurde mein Vater in einem schönen Teil des Friedhofs zur letzten Ruhe gebettet. Ich streifte ziellos herum und versuchte, mich an die Namen all der Familienmitglieder zu erinnern, die ich seit Jahren nicht getroffen hatte. Mein Bruder Jan sah so aus, als hätte er genauso viel geweint wie ich, und meine beherzte, starke Mutter hielt sich, so mitgenommen sie war, unglaublich tapfer. Papa war ihr erster Freund gewesen, damals war sie sechzehn, er achtzehn. Jetzt sorgte sie in dem Haus, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, für den Leichenschmaus. Ich blieb bei ihr und weinte immerzu. Ich brachte es nicht über mich, ihr nicht zu sagen, dass ich schon morgen in aller Frühe zurückfliegen musste, um eine weitere Show zu absolvieren.
    Auf dem Rückflug stieg ein Gefühl in mir auf, das mir neu war. Es war Hass. Ich empfand Hass auf mein Leben. Ich hasste mich umso mehr, als ich unfähig war, aus meiner Situation insgesamt und vor allem aus meinem Alkoholismus auszubrechen. Selbst nach dem Tod meines Vaters war ich nicht in der Lage, das alles hinter mir zu lassen.
    Ich begann jetzt, die Dinge ziemlich klar zu sehen. Ich wusste, dass da etwas schrecklich im Argen lag, ich wusste zugleich, dass ich zu schwach war, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, überkam mich ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht. Da konnte mir keiner helfen. Ganz vage dämmerte mir, dass mir vielleicht nur noch ein einziger Ausweg blieb. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, Frieden zu finden, diesem mörderischen, quälenden Alltag endgültig zu entfliehen. Solche Gedanken kamen mir immer häufiger, und mit der Zeit stellten sie sich auch ein, wenn ich nicht trank.
    Bisher hatte ich Menschen, die im Selbstmord Zuflucht suchten, als schwach und selbstsüchtig abgetan. Es war die ultimative Kapitulation, die mir entsprechend Angst einflößte. Mein Arzt schlug mir wegen des Alkoholproblems vor, einen Spezialisten aufzusuchen, und gab mir die Nummer eines guten Psychiaters. Ich wusste, dass ich diesen Rat hätte beherzigen sollen, aber kaum war ich zuhause, griff ich zur Flasche, und die Kontaktdaten landeten im

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