Im Leben wird dir nichts geschenkt.
Papierkorb.
Wenn ich dem gut gemeinten Rat meines Arztes nicht folgte, war das allein meine Schuld, allerdings muss man in dem Zusammenhang festhalten, dass die europäische Schulmedizin Fälle von Alkoholmissbrauch nicht so ernst nahm wie etwa Ärzte in den USA. In der Schweiz oder in Italien suchte man vergeblich nach Menschen, die sich so bereitwillig zu ihrem Alkoholismus bekannten wie Amerikaner.
Eines Morgens hatte ich genug. Es war ein elender Entschluss, ich weiß, obwohl ich hinzufügen muss, dass es sich beim Alkoholismus um eine Krankheit handelt, die Depressionen mit sich bringt. Ich konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen: Selbst wenn ich nicht trank, war ich nicht mehr ich selbst. Selbst ohne Kinder zu haben, war dies die entsetzlichste Lösung. Doch ist man einmal in einer solchen Verfassung, scheint nichts anderes mehr Sinn zu machen. Der Freitod ist das Selbstsüchtigste und Gemeinste, das man tun kann, trotzdem wollte ich es versuchen. Es ist wichtig, das im Nachhinein deutlich zu sagen, so weh es tut, doch es ist die Wahrheit .
KAPITEL ZWANZIG
EIN NEUER TAG
I ch war im Bad im Obergeschoss unseres Hauses in Morcote und betrachtete mich im Spiegel. In meiner Einsamkeit und Qual sah ich so unglücklich aus, wie ich mich fühlte. Ich wollte das elende Gesicht meiden, tat es aber nicht. Die Kinder waren nicht zu Hause, und Raoul arbeitete an seinen Rennwagen. Die Flasche Jack Daniel’s auf dem Kosmetiktisch war fast leer. Geräusche von draußen drangen nur von fern herein.
Ich hatte die Flasche aus dem Badezimmerschränkchen genommen. Sie war noch etwa halbvoll, als ich den Whisky zu den Pillen goss, die im Glas klirrten. Ich blickte über den See und dachte, Das war’s also. Mein Leben ist kaputt. Ich hasste es, wie sich die Dinge in den letzten sechs, sieben Jahren entwickelt hatten. Das Traumhaus war inzwischen ein Gefängnis, groß, leer und voller schlechtem Karma, und doch hatte ich hier ausgeharrt. Ich redete mir ein, es zu mögen, als Sinnbild der selbst gestellten Lebensaufgabe, meiner Ehe Stabilität zu verleihen. Nachdem die Beziehungen mit Kasper, Sylvester und Mark in die Brüche gegangen waren, sollte dies meine Familie für immer sein, und ich hatte alles daran gesetzt, diesem Ziel gerecht zu werden.
Ich dachte daran, dass die Kinder in Lugano zur Schule gingen. Die Stadt hatte einen netten kleinen Flughafen, von dem aus ich oft zur Arbeit flog. Wir lebten in Morcote, einem idyllischen Dorf mit gerade mal zweihundert Einwohnern, und ich hatte die Vorstellung gehegt, hier den Kindern eine Art Trutzburg zu schaffen. Ich wollte sie nicht – wie mich selbst – dem gnadenlosen Blick der Presse aussetzen. Wenn wir Urlaub machten, wurden wir ständig von Fotografen verfolgt, was die Jungs ziemlich nervte. Sie baten mich immer wieder, etwas dagegen zu tun, und ich wollte, dass sie zu Hause ungestört leben konnten. Ich genoss die Abgeschiedenheit. Im Garten konnte ich, wenn ich wollte, splitterfasernackt herumlaufen, und wir nahmen die Kinder und die Hunde ins Dorf mit, ohne dass uns jemand behelligte – eigentlich der perfekte Rahmen für ein richtiges Familienleben.
Mein Konterfei im Badezimmerspiegel sah bereits aus wie ein Zombie. Die ewigen Schuldgefühle, weil ich das perfekte Familienleben nicht hinbekommen hatte, hatten mich gezeichnet. Ich saß in der Falle. Ich hob das Glas und schluckte die Schmerzmittel Pille für Pille, während ich im Spiegel wieder das Bild der schwachen, gebrochenen Alkoholikerin sah. Ich triefte vor Selbstmitleid – eine typische Neigung unter Alkoholikern. Man sieht es nicht, wenn man mitten drin steckt, aber Alkoholiker sind in der Hinsicht schlimm, das ist leider so. Ich wusste wohl, dass die Person mir gegenüber nicht wirklich ich war, andererseits hatte ich nicht die Kraft, irgendetwas daran zu ändern.
Dass es heute so weit war, hatte ich nicht geplant. Es überkam mich ganz plötzlich. Ich trug wie gewöhnlich zu Hause einen lockeren Trainingsanzug und war wohl nur eben ins Bad gegangen, als ich mich hier und jetzt zu der Tat entschloss. Dazu hatte es keinerlei Vorbereitung gegeben. Zu Hause trug ich im Unterschied zu den eng anliegenden Kleidern und Stilettos, meiner Arbeitskleidung, für die ich in der Öffentlichkeit bekannt war, kein Make-up und keine Schuhe.
Es gab eine Menge Vögel am Ufer des Sees, und ich konnte das Flattern ihrer Flügel hören, wahrscheinlich von den Dachrinnen eines nahegelegenen Hauses. Ich war jetzt
Weitere Kostenlose Bücher