Im Licht des Blutmondes
fragte er sie, als Joleen schließlich neben ihm saß. Sie zuckte zusammen und hielt ihren Blick auf ihre Schuhe gesenkt. „Joleen, sieh mich an“, forderte er mit sanfter Stimme.
Zacharias sah, wie sich Joleens kleine Schultern hoben und senkten, als sie tief durchatmete, ehe sie ihn ängstlich ansah. In all der Zeit, in der sie nun schon bei ihnen war, war Joleen seinem Blick niemals mit Angst begegnet. Nun, da es der Fall war, spürte er verwundert, dass es ihm wehtat.
„Sagst du mir, was so schlimm sein kann, dass du Angst davor hast, es mir zu erzählen?“, fragte er leise. Joleen öffnete ihren Mund, doch kein Ton drang aus ihm heraus. Stattdessen traten plötzlich Tränen in ihre Augen und sie warf sich in seine Arme und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Ihr kleiner Körper wurde von heftigem Schluchzen erschüttert.
Zacharias war vollkommen überrumpelt, denn mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Gleichzeitig durchflutete ihn Erleichterung, da ihm bewusst wurde, dass nicht er es war, vor dem sie Angst hatte. Vorsichtig streichelte er ihr mit der Hand über den Rücken.
„Kannst du mir sagen, was dich zum Weinen bringt?“, fragte er leise. Joleen schüttelte ihren Kopf, ehe sie von noch stärkerem Schluchzen geschüttelt wurde. „Lässt du es mich anschauen?“, fragte er weiter. Joleen verstummte. Plötzlich verharrte ihr Körper regungslos. Nur sehr langsam hob sie ihren Blick und sah ihm in die Augen. Ihr Atem war beschleunigt und sie schluchzte immer wieder auf, obwohl Zacharias spürte, dass sie sich bemühte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
„So wie du das damals gemacht hast, wegen Mama?“, fragte sie mit verweinter Stimme. Zacharias nickte und ein nachdenklicher Ausdruck trat in Joleens Augen. „Okay“, wisperte sie schließlich und wandte dann ihren Blick ab. Er drückte Joleen sanft an sich und legte seine freie Hand an ihre Schläfe. Sie schloss ihre Augen und Zacharias stellte verwundert fest, dass er gleich Zugang zu ihren Gedanken fand. Sie ließ ihn bereitwillig jeden ihrer Gedanken, jede noch so kleine Erinnerung erkunden.
Er sah die tiefen Gefühle, die sie für seine gesamte Familie hegte, spürte ihren Wunsch, ihnen alles recht zu machen, nahm ihren Schmerz wahr, der sie jedes Mal erfüllte, wenn sie die Ablehnung ihrer Mutter zu spüren bekam. Und dann sah er ihre Angst und ihre Zurückhaltung gegenüber den anderen Kindern. Er hörte die Gemeinheiten, die sie ihr an den Kopf warfen, und sah die kleinen Intrigen, von „versehentlichem“ Anrempeln bis hin zu den absichtlichen Angriffen. Er spürte Joleens Angst, sich zu beschweren, weil sie befürchtete, dass dann alles nur noch schlimmer werden würde und weil sie trotz allem nicht wollte, dass man den anderen Kindern ihr zu Hause nahm, indem man sie fortschickte.
Aufrichtiges Mitgefühl floss durch seinen Körper und wieder wunderte er sich darüber, wie leicht es dem kleinen Mädchen fiel, Gefühle, die er so lange nicht mehr gespürt hatte, bei ihm auszulösen. Plötzlich trat ein anderes Gesicht in Joleens Gedanken und Joleens Körper versteifte sich. Erschrocken wollte sie von ihm abrücken. Das Gesicht eines Vampirs starrte ihm mit kalten, grauen Augen entgegen. Heftige Angst durchflutete Joleen. Zacharias zog sie sanft näher an sich und streichelte erneut über den Rücken, bis sie sich wieder entspannte.
Was hatte Angus bei ihnen gesucht? Und wieso schien er Interesse an Joleen zu haben? Was hatte er mit Martina besprochen? Aus dem Wenigen, was Joleen selbst mitbekommen hatte, konnte er nur Vermutungen anstellen, doch eine schlimme Ahnung beschlich ihn. Diese Verbindung zwischen Martina und Angus hatte nichts Gutes zu bedeuten, weder für Joleen noch für seine Familie. Doch ohne genaue Beweise würde er nichts unternehmen können. Es wurde Zeit, dass er dafür sorgte, dass Martina genauer beobachtet wurde. Sie gingen viel zu selbstverständlich davon aus, dass sie sich Nikolas unterordnete.
***
A LTER 12
N IKOLAS
Er betrat die Eingangshalle und suchte sich dann seinen Weg in den Flügel der Bluthuren. Seine Schritte waren ruhig und gleichmäßig, während er seinen Blick über die Kinder schweifen ließ, die sich dort aufhielten.
Sieben Jahre war es her, seit sie das erste Kind bei sich aufgenommen hatten. Damals war er dagegen gewesen. Seit Joleen bei ihnen eingezogen war, waren im Durchschnitt pro Jahr etwa zwei Kinder dazugekommen. Das
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