Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)
auf die Unterwäsche, als sie das Pfeifen hörte. Es kam durchs offene Fenster und machte ihr Gänsehaut. Diese Melodie. Da war sie wieder, diese Melodie. Der Mann mit der Kamera.
Plötzlich sah sie ihn wieder vor sich, allein auf der River Street. Aber das konnte doch unmöglich derselbe Mann sein, oder? Mit gespitzten Ohren griff sie nach ihrem Bademantel und warf ihn sich über. Als sie die Balkontür erreicht hatte und nachsehen wollte, hatte das Pfeifen aufgehört. Auf dem breiten, weißen Bürgersteig der Jones Street war keine Menschenseele zu sehen.
14
Frauenstimmen trillerten fröhlich in der Küche, als sie hineinging, um einen Kaffee zu trinken. Da sie Carlys Stimme, ein helles Flöten, heraushören konnte, wunderte sie sich ein wenig. Das war ungewöhnlich für einen Montagmorgen.
Doch als sie die Modenschau sah, begriff Phoebe, warum ihr kleines Mädchen so überglücklich war. Nichts konnte Carly so sehr zum Strahlen bringen wie ein neuer Pulli oder ein anderes Kleidungsstück. Das Teil, das sie im Moment vorführte wie ein Topmodel, war hellblau. Es sah aus wie aus Wolken gemacht, dachte Phoebe, so, wie es sich über den Schultern kräuselte und ihr um die Taille flatterte.
Carly drehte sich gekonnt um die eigene Achse und entdeckte ihre Mutter. »Schau mal, Mama! Schau mal, was Gran für mich gemacht hat!«
»Das ist ja fantastisch!« Phoebe berührte vorsichtig einen der Ärmel. Es fühlte sich auch an wie eine Wolke. »Du sollst sie doch nicht so verwöhnen, Mama.«
»Das muss so sein. Außerdem ist das nur ein Muster. Eine Art Prototyp. Ich werde auch ein paar für Erwachsene machen, wollte aber erst mal mit einer Kindergröße anfangen.«
»Gran hat gesagt, dass sie mir noch eine passende Tasche dazu machen kann.«
»Gib’s auf«, sagte Ava leise, während sie Phoebe den Kaffee reichte. »Gegen die beiden kommst du sowieso nicht an. Wie wär’s mit einem warmen Frühstück?«
»Nein, danke. Mir reicht ein Toast.«
»Und wie wär’s hiermit?« Ava hielt ihr einen Korb voller Muffins hin. »Die hab ich heute Morgen frisch gebacken.«
Phoebe nahm einen Muffin und biss hinein. »Nicht nur Carly wird hier verwöhnt. Komm, Carly, Zeit fürs Frühstück. Ich setz dich auf dem Weg zur Arbeit vor der Schule ab.«
»Wir müssen aber Poppy und Sherrilynn auch mitnehmen.«
»Stimmt. Da war doch noch was.«
»Ich kann sie auch fahren, wenn dir das lieber ist«, bot Ava an.
»Nein, das krieg ich schon hin. Übrigens würde ich morgen gern bei Duncan zu Abend essen, wenn ihr nichts dagegen habt.«
Phoebe sah, wie Ava und Essie hinter Carlys Rücken verstohlene Blicke tauschten, während das Mädchen Frosties in eine Schüssel schüttete.
»Was ist denn?«
»Nichts.« Essie schenkte ihr ein unschuldiges Lächeln. »Natürlich haben wir nichts dagegen. Nicht im Geringsten. Ava, ich glaube, du schuldest mir fünf Dollar.«
»Ihr schließt Wetten darauf ab, wann ich …« Phoebe zwang sich zu schweigen, weil Carly sie erwartungsvoll ansah.
»Ist er jetzt dein Freund?«
»Ich bin zu alt für einen Freund. Ich bin nur zum Abendessen eingeladen.« Um Sex mit ihm zu haben, dachte sie. Höchstwahrscheinlich jede Menge richtig guten Sex. Sollte sie Kondome kaufen? Er würde doch bestimmt welche im Haus haben. Hauptsache, sie konnte sich wegen irgendetwas Sorgen machen.
»Ich würde auch gern mal wieder mit jemandem essen gehen«, bemerkte Ava. »Einfach nur jemandem gegenübersitzen und sich ein paar Stunden unterhalten. Wirst du dich schick machen?«
»Äh, nein.« Sollte sie sich neue Unterwäsche kaufen? »Wir werden nur Pizza bestellen.«
»Das ist nett. Und gemütlich.«
»Ich mag Pizza«, sagte Carly erwartungsvoll.
Schuldgefühle, Schuldgefühle, Schuldgefühle. Na toll. Aber erst einmal musste sie endlich diese unbändige Lust stillen, bevor sie es bei der Kleinen wiedergutmachen konnte. »Nun …«
»Wir essen doch einmal die Woche Pizza«, kam ihr Essie zu Hilfe. Als Phoebe bereits dachte, danke, Mama, gut gemacht , fügte Essie hinzu: »Du solltest Duncan bald mal zu uns zum Abendessen einladen, Phoebe.«
»Oh … ich …«
»Zu einem richtig schönen Essen im Kreis der Familie. Soweit ich weiß, hat er dich neulich mit zu seiner Familie genommen. Du solltest also eine Gegeneinladung aussprechen. Warum fragst du ihn nicht, wann er Zeit hat?«
»Gern.« Ach, war das alles kompliziert. Warum musste nur immer alles so kompliziert sein? Durfte eine erwachsene Frau nicht einfach
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