Im Licht von Apfelbäumen | Roman
kam, drückte die Zweige des Baumes herunter und verdeckte das Mädchen.
Della wollte sie plötzlich ganz sehen. Sie wollte, dass das Mädchen aufstand und über den Rasen ging, zum Fenster, damit sie sie sehen konnte.
Ist sie da draußen? Hat sie ein … weißes Kleid an? Oder … ein hellblaues?
Pause.
Ja.
Die Zweige hatten sich wieder gehoben; das Mädchen, vorübergehend sichtbar, kratzte sich gerade an der Schulter. Angelene.
Benimm dich gut, sagte Talmadge. Bleib für dich. Der Richter arbeitet an der Sache. Wir versuchen, dich hier rauszuholen. Aber du musst vernünftig sein. Du musst ihn in Ruhe lassen. Della?
Wenn Angelene doch nur auf der Bank säße, die dem Gerichtsgebäude zugewandt war. Dann könnte Della sie sehen. Aber wer wollte schon auf eine Haftanstalt gucken, wenn es eine andere Aussicht gab? Della konnte es ihr nicht verdenken.
Warum will sie nicht reinkommen? Haben sie … lassen sie sie nicht?
Als Talmadge nicht antwortete, wusste Della Bescheid. Natürlich wollte das Mädchen nicht hereinkommen. Warum sollte sie?
Della ging zum Bett und blieb daneben stehen. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas Wesentliches verpasst zu haben. Jemand hatte ihr gesagt, sie solle sich etwas merken, doch sie hatte es vergessen. Sie hatte es schon vor langer Zeit vergessen, aber eben gerade den entscheidenden Moment verpasst. Sie hatte sich auf andere Dinge konzentriert. Irgendwann einen Fehler gemacht. Sie fühlte sich haltlos, schwach.
Della …
Aber sie hob eine Hand, um ihn am Weiterreden zu hindern.
Nach einer Weile sagte sie: Wie alt ist sie? Sie muss jetzt neun sein, oder zehn …
Er schwieg, aber sie konnte seine Ungläubigkeit spüren.
Sie ist vierzehn, sagte er schließlich.
Lange Sekunden verstrichen, während sie dies in sich aufnahm.
Della, sagte er. Ich werde mit dem Amtsrichter sprechen …
Nein, sagte sie und kam langsam, mit großer Anstrengung, zum Gitter. Nein, bitte, nicht …
Ich muss …
Nein, bitte, noch nicht, gib mir … wenigstens noch eine Woche …
Sein Blick verschleierte sich. Warum? Warum noch eine Woche?
Ich brauche einfach noch eine Woche.
Als Talmadge aus dem Gerichtsgebäude trat, kam Angelene über den Rasen auf ihn zu. Sie schaute ihn an – schüchtern, erwartungsvoll –, doch er schaffte es nicht, etwas zu ihr zu sagen. Schweigend gingen sie gemeinsam die letzten Steinstufen hinunter und bogen auf die Straße ein.
Die Luft war klar und hell. Der Himmel über ihnen leuchtend blau.
Viele Menschen waren unterwegs. Erneut – nur dieses Mal zaghaft – hakte sie sich bei ihm unter. Der Nachmittag schien endlos, das Licht golden: als würde es nie Abend werden. Die Frauen trugen Schals um Schultern oder Kopf, und manche warfen Talmadge und Angelene im Vorübergehen neugierige Blicke zu. Eine Frau kam ihnen mit zwei Kindern entgegen, einem Mädchen und einem Jungen, dem sie die Hand an den Hinterkopf legte, um ihn an den Kantstein zu lenken und den Fußgängern auszuweichen. Der Kleine trug Hosen, die ihm bis knapp unter die Knie reichten, und seine Haare waren um die Stirn und die Ohren mit Pomade verkleistert. Sie schienen auf dem Weg zu etwas Wichtigem zu sein: einem Gottesdienst vielleicht oder einer Beerdigung. Und tatsächlich, als Talmadge und Angelene die Brüstung am Ende der Straße erreicht hatten – von hier aus ging es über etliche Stufen und Plattformen zum See hinunter –, läuteten die Kirchenglocken. Über ihnen stob ein gewaltiger Schwalbenschwarm auf, ein paar Krähen flogen stumm durch die Luft, und unter ihnen lag der See, grünblau und in der Sonne funkelnd. Dies war sein südliches Ende; das nördliche befand sich fünfundfünfzig Meilen weit entfernt im Canyon. Sie begannen, die Stufen hinunterzusteigen. Talmadges Beine zitterten, was ihm peinlich war. Angelene ließ seinen Arm nicht los.
Unten, auf der Ebene des Sees, herrschte reges Treiben. Paare gingen unter der Nachmittagssonne spazieren – Chelan war nicht nur eine Wirtschaftshauptstadt der Gegend, sondern auch ein beliebter Ort für flitternde und andere Liebespaare –, und obwohl jetzt Kälte über sie hinwegfegte, obwohl die Luft nach Rauch und Gletscher roch, spielten Kinder im Wasser, und ihre in Mäntel gehüllten Aufsichtspersonen beobachteten sie vom Ufer aus mit hochgezogenen Schultern.
Sie gingen auf ein großes Lagerhaus zu. Das Gebäude stand dort, wo der See eine Kurve beschrieb, und schien auf dem Wasser errichtet und vom Wald gestützt zu
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