Im Meer schwimmen Krokodile
–, also als die Schiffswellen verebbt waren, ruderten wir weiter und riefen immer wieder Liaquats Namen. Wir ruderten und riefen. Wir umkreisten die Stelle, an der wir ihn vermuteten, obwohl wir wahrscheinlich längst meilenweit davon entfernt waren.
Vergebens. Liaquat war von der Dunkelheit verschluckt worden.
Danach – warum, weiß ich nicht, vielleicht aus Erschöpfung oder aus Verzweiflung, vielleicht auch weil wir uns viel zu klein und winzig fühlten, um noch weiterzukämpfen –, sind wir eingeschlafen.
Als wir die Augen wieder öffneten, ging die Sonne auf. Das Wasser, das uns umgab, war dunkel, es war mehr oder weniger schwarz. Wir wuschen uns das Gesicht und spuckten Salz. Wir suchten den Horizont ab und entdeckten Land. Eine Landzunge und einen Strand, einen Hügel. Nicht allzu weit entfernt, in erreichbarer Nähe. Wir begannen wie wild zu rudern, legten uns gewaltig ins Zeug, jedoch ohne zu wissen, ob es sich dabei um Griechenland oder um die Türkei handelte. Wir sagten nur: Rudern wir in diese Richtung.
Vom vielen Knien waren unsere Beine ganz steif. Und an den Händen hatten wir kleine Wunden, winzige Schnittwunden. Keine Ahnung, woher, aber sie brannten jedes Mal, wenn Salzwasser drankam. Je mehr wir uns der Insel näherten, desto heller wurde es, und plötzlich entdeckte Soltan eine Fahne auf einem Hügel. Eine Fahne, sagte er nur flüsternd und zeigte darauf. Der Wind zerrte an ihr, aber wenn sie glatt war, konnte man waagrechte blaue und weiße Streifen erkennen, die sich miteinander abwechselten (neun, um genau zu sein). Der oberste war blau. In der oberen Ecke neben dem Fahnenmast befand sich ein Quadrat, das ebenfalls blau war, mit einem weißen Kreuz in der Mitte.
Genau wie bei der griechische Flagge.
Als wir uns im flachen Wasser befanden, verließen wir das Schlauchboot. Wir zogen es zu den Felsen an Land. Wir duckten uns, um so wenig wie möglich aufzufallen, obwohl der Ort vollkommen verlassen wirkte. Wir ließen die Luft aus dem Boot, zunächst, indem wir die Luft aus den Ventilen drückten, und dann, indem wir das Plastik mit Steinen zerfetzten. Wir falteten es hastig zusammen und versteckten es unter einem Felsen, den wir anschließend mit Sand bedeckten. Wir sahen uns an.
Und jetzt?, fragte Hussein Alì.
Wir hatten die Tüten mit unseren Kleidern verloren und trugen nur Unterhosen.
Bleibt hier, sagte ich.
Wohin gehst du?
In den Ort.
In welchen Ort? Wir wissen doch gar nicht, wo wir sind.
Die Küste entlang …
Die Küste entlang, na ganz toll!, sagte Soltan.
Lass mich ausreden, erwiderte ich. Wir müssen nach Mytilini oder?
Weißt du vielleicht, wo Mytilini liegt?
Nein. Aber es wird hier schon irgendeinen Ort geben. Irgendein Haus. Irgendwelche Geschäfte. Ich besorge uns etwas zu essen und wenn möglich auch etwas zum Anziehen. Wartet hier auf mich. So wie wir jetzt aussehen, sollten wir uns lieber nicht blicken lassen.
Ich will mitkommen, sagte Hussein Alì.
Nein.
Warum?
Das habe ich doch gerade erklärt.
Weil man sich einzeln besser verstecken kann, sagte Rahmat.
Hussein Alì sah mich schief an. Du kommst aber wieder oder?
Ich komme gleich wieder.
Du willst doch nicht abhauen?
Ich drehte mich wortlos um und kletterte den Hügel hinauf. Ich machte einen großen Umweg, warum, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich weil ich mich verlaufen hatte – vorausgesetzt, man kann sich überhaupt verlaufen, wenn man gar nicht weiß, wo man hinmuss.
Hinter einer Baumgruppe tauchten wie aus dem Nichts Häuser auf, und zu diesen Häusern gehörte auch ein Supermarkt. Ich sah Touristen, Familien, die gerade Urlaub machten, alte Herren, die spazieren gingen. Ich sah eine Eisdiele mit einer langen Schlange davor. Einen Zeitschriftenkiosk. Eine Garage, in der Mofas und Autos vermietet wurden. Und einen kleinen Platz mit Bänken und einem Spielplatz. Aus der Eisdiele kam laute, beschwingte Musik.
Der Supermarkt. Der Supermarkt war das Paradies. Der Supermarkt war mein Ziel. Jetzt musste ich ihn nur noch betreten, etwas zu essen mitgehen lassen – nichts Aufregendes, Obst war völlig ausreichend – und etwas zum Anziehen. Vielleicht Badehosen, wenn es welche gab. Jungen, die an einem Badeort in Badehosen herumlaufen, fallen nicht weiter auf. Aber Jungen in Unterhosen schon.
Eine Polizeistreife fuhr vorbei. Ich versteckte mich hinter (beziehungsweise in) einem Blumenbeet. Dort blieb ich mehrere Minuten sitzen und sah mir den Supermarkt genauer an. Ich wollte wissen, ob ich
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