Im Mittelpunkt Yvonne
von dem Brief. Sie können den ruhig mitnehmen, brauchen sich die Adresse nicht abzuschreiben. Da oben links ist der Absender. Yvonne Clymer hat dort schräg gegenüber gewohnt, vier oder fünf Häuser weiter.«
»Mit ihren Angehörigen?«
»Mit ihrer Mutter. Sie gingen beide arbeiten. Ihre Mutter war geschieden und - na ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, das paßte wohl auch für sie, soviel ich gehört habe. Aber sie war auffallend schön, muß ich sagen, allerdings reichlich frech.«
»Eine schöne Figur hatte sie ja«, sagte Estelle.
»Also gut, ich komme vielleicht später noch mal vorbei«, sagte ich. »Will zunächst eine Grundstücksfrage klären.«
»Versuchen Sie nicht, uns schonend etwas beizubringen«, sagte Estelle. »Ich weiß, daß Drury in übler Lage ist. Habe schon oft darum gebangt, daß er eines Tages ins Gefängnis müßte, und bin fest davon überzeugt, daß das früher oder später noch passiert.«
»Kommt er denn gelegentlich her, um die Kinder wiederzusehen?« fragte ich.
Mrs. Ambler preßte grimmig die Lippen zusammen. »Immerhin oft genug, um hier alles durcheinanderzubringen. Er hofft nämlich, dadurch zu erreichen, daß Estelle ihm eines Tages verbietet, zu den Kindern zu gehen. Das könnte er dann als Grund benutzen, um sie der seelischen Grausamkeit zu beschuldigen, was ihm freilich nicht viel helfen wird. Estelle hat ihm soviel vorzuwerfen, daß er von sich aus nie die Scheidung erzwingen kann, aber das weiß er vielleicht gar nicht. Sie sollten mal ein paar von den Briefen sehen, die meine Tochter zwischen seinen Sachen gefunden hat, Briefe von zehn, zwölf verschiedenen Frauen, ganz schamlose, ordinäre Briefe... Ich verstehe nicht, wie Frauen überhaupt so etwa schreiben können.«
»Drury hat diese Weiber ja immer gebeten, ihm zu schreiben«, sagte Estelle tonlos, »das schmeichelte seiner Eitelkeit und war Balsam für seinen Egoismus.«
»Falls er jetzt wiederauftauchen sollte und die Kinder sehen will, erwähnen Sie bitte nicht, daß ich hier war«, sagte ich. »Ich möchte gern meine Ermittlungen möglichst diskret durchführen.«
»Ist schon gut«, sagte Mrs. Ambler. »Estelle hat dafür Verständnis.«
Estelle reichte mir zum Abschied die Hand und lächelte mich matt an. Mrs. Ambler folgte mir bis zur Tür. »Es ist fürchterlich, wenn ein Mädel so ruiniert wird«, sagte sie. »Estelle lebt dauernd in Angst, daß der Vater ihrer Kinder ins Gefängnis kommt. Wenn er wenigstens fernbliebe, dann könnte sie den Kindern sagen, er sei gestorben, und die Leute wüßten nichts mehr von ihm. Kinder sind kleine Teufel, die gern andere Kinder grausam hänseln. Wenn der Mann ins Gefängnis kommt, gibt es ein furchtbares Drama.«
»Es wird von mir alles ganz dezent behandelt«, sagte ich abschließend, setzte mich wieder in meinen Leihwagen und dachte ein bißchen nach.
Ich verschaffte mir ein städtisches Adreßbuch und suchte unter >Patton< nach einer Lucille Patton. Ich hatte Glück: Sie war mit Straße und Telefon eingetragen.
Also fuhr ich dort hin. Es war ein kleines Mietshaus. Die Hauswartsfrau erzählte mir, Lucille Patton sei bei einer Behörde tätig, allerdings wüßte sie nicht, bei welcher. Sie käme aber fast immer um Viertel nach fünf von der Arbeit zurück. Da diese Frau geschwätzig und ganz erpicht aufs Erzählen und Tratschen war und ich noch Zeit hatte, blieb ich eine Zeitlang bei ihr sitzen und >plauderte< mit ihr. Sie brachte mir einen Schnaps, und eine Weile sprachen wir über alles mögliche. Als ich schließlich das Gespräch auf Miss Patton zurücklenkte, redete sie frei von der Leber weg.
Lucille wohnte schon seit etwa fünf Jahren als einzige Untermieterin im Hause. Sie sei eine zuverlässige und anständige Person, mache sich aber auch gern vergnügte Stunden und sei offenbar überall beliebt. Über ihre Familie habe sie sich sehr zurückhaltend geäußert, aber verheiratet sei sie gewiß noch nicht gewesen. Sie sei schlank und mittelgroß, hätte einen sehr feinen, brünetten Teint, schwarzes Haar, dunkle Brauen und Wimpern und graue Augen.
Die Hauswartsfrau, selbst etwa fünfundvierzig Jahre alt, schätzte Lucille auf höchstens siebenundzwanzig. Sie sei ein gutmütiges Mädel, habe Freundinnen und Bekannte, sei aber über ihren Beruf, eine gutbezahlte Dauerstellung, sehr verschwiegen.
Als die Frau mir noch ein Glas einschenken wollte, lehnte ich dankend ab. Sie trank noch eins und versuchte nun, mich auszuhorchen: Was ich von
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