Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
anzumerken.
»Moment«, sagte Swetja. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete die Statue genauer. Sie versuchte, den Schwerpunkt der Figur einzuschätzen und günstige Ansatzpunkte und Hebel zu finden. »Hier!«, sagte sie dann und wies auf eine Stelle am Rücken, die sie gerade noch erreichen konnten.
Beide Frauen warfen sich dagegen. Anisja prellte sich das Handgelenk und stöhnte auf. Die schimmernden Hufe der Kreatur knirschten, als sie sich vom Boden lösten. Die Vorderkanten drückten Splitter aus den Treppenstufen.
Dann, langsam zuerst, doch schließlich immer schneller, kippte der Stier nach vorn.
Ein Horn brach ab, als der Kopf auf eine Stufe prallte. Aber die Gestalt war rund und massiv genug, dass sie fast unbeschadet die Treppe hinabkam. Vorstehende Stücke platzten ab, Stufen barsten unter dem Gewicht.
Kirus streckte die Arme aus, als könnte er die Statue aufhalten. Der Stier prallte gegen ihn und riss ihn mit. Schimmernde Scherben spritzten in alle Richtungen. Die Masse des Minotaurus rollte über Kirus hinweg die Treppe hinab, landete unten im Gang und zerbarst dort auf dem Boden. Benommen saß Kirus zwischen den Trümmern, und kleine Brocken kullerten immer noch von oben auf ihn herab.
Benommen, aber nicht erschlagen.
Enttäuscht schaute Swetja zu ihm hinunter. Ihr Herz schlug schneller, und sie überlegte, was für Möglichkeiten ihr noch blieben, wenn der Zauberer sich wieder erholte.
Doch dann geschah etwas. Die glitzernden Scherben rings um den Zauberer wurden dunkel – blutig rot. Die scharfen Umrisse wirkten weicher und sackten in sich zusammen. Es war kein Kristall mehr, sondern Klumpen von Fleisch, die in Blut schwammen. Die letzten Stücke des Stiers landeten mit einem trägen, platschenden Laut auf dem Boden.
Auch Kirus veränderte sich. Seine Gestalt zog sich zusammen, seine Haut wurde dunkler. Und mit einem Mal saß da statt des steinernen Zauberers ein ganz normaler, wenn auch fremdländisch wirkender Mann inmitten eines Haufens von Überresten, die aussahen, als hätte man sie aus einem Schlachthaus gefegt.
Dunst stieg von dem Blut am Boden auf, bildete fahle Säulen, die sich um den Magier wanden wie Schlangen. Kirus stand auf. Er glitt auf dem Blut aus, er wedelte mit den Armen den Dunst weg.
»Fort! Fort mit euch!«, rief er, und seine Stimme klang tief und voller Sorge. Eine lebendige, eine menschliche Stimme!
Swetja sah, wie alles Fleisch und alles Blut der Stierfigur sich in Rauch auflöste. Der Qualm suchte sich zu vereinen, aber Kirus fächelte ihn auseinander. Schließlich schwebte der Dunst als dünne Wolke zur Decke und zog davon. Kirus lachte. Er sah zu Swetja hoch.
»Schlaues Kind. Du wolltest die älteren Geister wecken, die gekommen waren, um mich aufzuhalten. Aber sieh, es sind nur noch Schatten. Den Wald, der sie nährte, gibt es nicht mehr. Sie konnten damals nichts ausrichten, und heute fehlt ihnen erst recht die Macht dazu.
Dass du meinen Zauber ein wenig erschüttert hast, was macht das schon? Wenn ich mich um euch alle gekümmert habe, bin ich stark genug, um alles zu richten. Und alles, alles wird wieder so sein wie zuvor …«
Er setzte erneut den Fuß auf die Treppe. Swetja stand da, starr vor Angst, und umklammerte das Geländer. Aber sie bemerkte auch, dass Kirus’ Haltung nicht recht zu seinen stolzen Worten passen wollte. Obwohl er wieder ein Mensch war, aus Fleisch und Blut und mit geschmeidigen Muskeln unter einer Haut wie geöltes Ebenholz, bewegte er sich sogar langsamer als zuvor.
Schleppenden Schrittes kam er die Stiege herauf. Swetja sah Tränen über seine Wangen laufen, als würden all die Eindrücke der letzten tausend Jahre ihn mit einem Mal überwältigen, all das, was seinen versteinerten Geist in dieser Zeit nicht hatte erreichen können, all die Gefühle, die sein versteinertes Herz nicht eingelassen hatte.
Kirus blieb stehen. »Darija«, murmelte er. »Meine wunderschöne, meine ewig junge Gräfin.«
Er ballte die Faust und schlug sie gegen die Wand. Seine Gestalt straffte sich. »Nein«, sagte er. Er sah Swetja gerade in die Augen. Anisja gab einen erstickten Laut von sich und rannte davon.
»Nein«, wiederholte Kirus. »Ich mache weiter. Deine Pläne sind gescheitert, kleine Dame.« Er setzte den Fuß auf die nächste Stufe.
Lautlos glitt Borija hinter ihm um die Ecke. Mit zwei Sätzen stürmte er die Treppe bis zu dem Zauberer empor und rammte ihm mit beiden Händen einen Säbel in den Rücken.
Kirus war nicht
Weitere Kostenlose Bücher