Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
so kalt.« Anisja zog den dünnen Mantel enger um die Schultern. Ihre glatten Schuhe rutschten über den firnharten Schnee, der in den schattigen Mulden am Berghang lag.
»Wir haben schon Schlimmeres überstanden«, sagte Swetja, die selbst gegen ihre klappernden Zähne ankämpfen musste. »Denk an den Pass!«
Anisja lachte. »Schlimmeres? Da denk ich an zu Hause, gleich nachdem Ihr unter meinem Küchentisch hervorgesprungen seid. Was kann schlimmer sein als der verrückte Steinmagier meiner alten Herrin?«
Die beiden jungen Frauen halfen sich gegenseitig den Berg hinauf. An den glatten Stellen suchte die eine festen Halt und bot der anderen die Hand, und so wechselten sie sich ab. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass es bei diesem Marsch noch einmal so hoch hinausgehen würde. Swetja ärgerte sich, dass sie nicht alles mitgenommen hatten, was Anisja für die Bergwelt eingepackt hatte.
Die vier Krieger stapften neben ihnen her, das gewaltige Rohr immer in Sichtweite. Dieses führte geradewegs zum Gipfel hinauf und spannte sich spielerisch über Spalten, die die Menschen mühsam überwinden mussten oder die sie zu Umwegen zwangen. Tori warf einen missmutigen Blick zu dem Gebilde hinüber.
»Was meinste, du? Soll’n wir raufkletten und oben auf’m Rohr weiterlaufen?«, fragte sie. »Sieht besser aus als die verflucht beste Straße, die ich je in ’nen Städten gesehen hab.«
»Klar«, antwortete Mart. »Glatter und keine gerade Fläche oben, auf der man stehen kann. Und Eis, möcht ich wetten, so hoch wie wir sind, Dummchen. Ideen hast du, aber nicht mal zwei gesunde Hände, um dich oben drauf festzuhalten.«
»Pffft, Einauge.« Tori warf den Kopf in den Nacken. »Weiß noch sehr gut, du, wer sich oben auf’m Skorpion gehalten hat und wer drunterlag.«
»Wart’s mal ab«, knurrte Mart, »bis wir mit den Schätzen von der Zitadelle wieder in den Städten sind. Dann verlass ich ’ne Woche lang das Bett nur noch, wenn ich pissen muss – und ich kann dir jetzt schon sagen, wer in dem Bett unten liegt.«
Er schob Tori einen kleinen Abhang hoch und streckte ihr die Hand entgegen, damit sie ihm hochhalf. Sie hielt ihm den schimmernden, scharf geschliffenen Haken entgegen.
»Ja, wart’s ab, du«, sagte sie grinsend. »Is ’n weiter Weg zurück, und in deinem Alter entscheidet jeder Tag darüber, was’te im Bett noch treiben kannst – und obste überhaupt hochkommst, wenn du dich hinlegst.«
Der Tag schritt rasch voran, aber die Zitadelle auf dem Gipfel kam näher. Schon ragte das Gebäude, das bei Sonnenaufgang so fern und entrückt gewirkt hatte, dicht über ihnen auf. Es verdeckte den vollen Styx, der schwer und rund dahinter hing und der die Türme vom Fuß des Berges aus hatte wirken lassen wie einen dünnen Schattenriss. Mittlerweile konnte Swetja die Einzelheiten des Bauwerks studieren.
Der obere Teil der Zitadelle wirkte leicht und wuchtig zugleich. Ein hoher Turm ragte aus einem Mauerrund auf, so hoch, dass er allein deswegen schlank aussah. Kleinere, dünne Türmchen mit spitzen Dächern umgaben ihn auf allen Seiten. Die Wälle der Zitadelle glühten. Obwohl die Quader, aus denen sie gefügt waren, so gewaltig waren wie die Steine der zyklopischen Bauten im Tal, hatten sie doch fast etwas Ätherisches an sich. Sie schimmerten wie Kristall und sahen durchsichtig aus, auch wenn vom Styx, der auf der anderen Seite schien, nichts zu erkennen war. Nur hoch oben im höchsten Turm glänzte eine Fensterreihe rot, als fiele das Licht von der anderen Seite hindurch. Das große Rohr verschwand unmittelbar darunter im Mauerwerk.
Endlich standen sie keuchend unter den äußeren Wällen. Der Wind pfiff eisig um die Mauern. In der Ferne erstreckten sich die Berge, so weit sie sehen konnten – im Süden die niedrigen Vorgebirge, im Norden, nun größtenteils hinter dem Bauwerk verborgen, die höheren Gipfel, die sie auf dem Weg zur Zitadelle überwunden hatten. Rings um sie herum bedeckten die Schneefelder alle Hänge, und Gletscherzungen leckten talwärts. Swetja rückte ihre Kapuze zurecht und strich sich die Haare aus der Stirn. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr der Schweiß am Leib gefrieren.
»Wie kommen wir hinein?«, fragte sie.
Tori legte den Kopf in den Nacken. »Keine Aufpasser da oben zu sehn, du. Keine Bewegung, solang wir hochgestiegen sind. Sei trotzdem leise, Prinzessin.«
»Willst du es versuchen, Kletteräffchen?« Mart sah sie spöttisch an. »Oder gibst du ’ne Schulter?«
Tori
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