Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
um Stufe, und der Hauptmann bedeutete ihr mit einer Geste, vorsichtig zu sein.
Dann aber schlug die Stimmung um, auf halber Treppe oder später – Swetja wusste es selbst nicht genau, denn als sie dessen gewahr wurde, hatten ihre Füße sie bereits einige Stufen weitergetragen. Doch nun kam das Grauen von oben, und es drückte sie die Treppe hinab wie ein Sturzbach. Sie prallte gegen Anisja, die hinter ihr ging und offenbar nichts bemerkt hatte.
»Was ist?«, wisperte die Magd.
Swetja schaute auf Borijas Rücken. Der Hauptmann ging weiter, sein Schritt stockte nicht. »Nichts … nichts.« Swetja biss die Zähne zusammen und folgte ihm.
Die Treppe beschrieb einen Bogen, und langsam stiegen sie in ein weiteres Turmgemach hinauf. Es war das oberste Geschoss. Dieser weite Raum war nicht leer wie die Stockwerke darunter, sondern angefüllt mit alchemistischen Apparaturen und astromagischer Mechanik, deren Sinn Swetja nicht erkennen konnte. Das riesige Rohr, das an der Bergflanke heraufkam, bohrte sich hier in die Zitadelle und füllte den Saal halb aus. Überall liefen farbige Flüssigkeiten durch gläserne Leitungen, sie brodelten in Kolben, und alle Anlagen glitzerten vor Gold und Silber und Elektromagicum. Ganz hinten stand ein alter Mann mit wallendem Bart. Der Greis sah noch älter aus als seine Gefährten, die einen Stock tiefer mit den Söldnern aus dem Süden kämpften. Er hielt ein kleines Mädchen fest, das vor ihm stand, und starrte entsetzt auf die Eindringlinge.
Borija ging weiter, ohne innezuhalten. Er steckte den Säbel weg und nestelte an seiner Weste. Lewo folgte ihm zögernd und spähte misstrauisch in die verborgenen Winkel zwischen den Apparaturen.
Swetja blieb auf den letzten Stufen der Treppe stehen. Sie konnte nicht weiter in den Raum hineintreten. Anisja schaute ihr besorgt über die Schulter und flüsterte: »Zauberei. Ist das Zauberwerk wie bei Kirus?«
Swetja räusperte sich. »Hauptmann Borija«, krächzte sie. »Geht nicht weiter. Geht nicht weiter! Da ist etwas in dieser Halle.«
Doch Borija achtete nicht auf ihre Worte. Er ging in die Mitte des Raumes. Der alte Graubart schob das Kind weg und griff nach seinem Stab, der hinter ihm an einem Pult lehnte. Der Greis öffnete den Mund und wollte etwas sagen, da hob Borija die Hand. In seinen Fingern schimmerte der blaue Stein, den er Kirus dem Zauberer weggenommen hatte. Das Juwel glitzerte unirdisch im Licht des Styx, der schwer vor den Fensteröffnungen hing.
Der alte Mann schloss den Mund wieder. Er blickte überrascht drein und wich mit dem Mädchen bis an die hintere Wand zurück.
»Was passiert denn da?« Anisjas Flüstern überschlug sich fast.
»Wir tun …«, gab Swetja atemlos zurück, hielt inne, berichtigte sich: »Borija tut, wofür auch immer wir gekommen sind.«
Swetja wusste nicht, ob das gut war oder schlecht. Rötliche Schlieren durchzogen den Raum, als würde der Styx hier in den Äther bluten. Überall war geisterhafte huschende Bewegung. Sie kamen aus den Apparaturen, sie drangen aus dem Rohr, das aus der Wand wuchs – spirituelle Essenzen! In den nebelhaften Streifen nahm Swetja mitunter Gesichter wahr, Fratzen. Lebende Umrisse wie von albtraumhaftem Gewürm, aber verzerrt und flüchtig.
Die beiden Dragoner gingen mitten hindurch und bemerkten nichts davon. Borija blieb vor dem Ende des Rohrs stehen, das geradewegs auf den Styx wies. Gleich davor ruhte eine Art Stimmgabel auf einer langen Stange. Borija fügte den blauen Edelstein dort ein, und Swetja erkannte, dass die Gabel eine Halterung war, genau für dieses Juwel gemacht. Borija zog die Schrauben an, die den Stein an ihrem Platz hielten. Er zog den Stab auseinander, der sich nach oben verlängern ließ, bis der blaue Stein mittig vor der gewaltigen Röhre hing.
Er schien das Licht des Styx einzufangen, er fächerte es auf, in so viele Töne von Rot, dass kein sterbliches Auge sie zu unterscheiden vermochte. Swetja sah die Strahlen so unwirklich wie zuvor die Erscheinungen im Raum, einen Lichtkegel, der sich von dem Edelstein her ausbreitete und der das Ende des großen Rohrs in voller Breite erleuchtete. Swetja sah es, und ein Gedanke ging ihr durch den Sinn.
»Wenn das Borijas Plan war«, murmelte sie, halb zu Anisja, halb zu sich selbst, »warum hat er mich dann überhaupt hierher mitgenommen?«
»Was?«, fragte Anisja verwirrt.
Swetja schwieg. Sie starrte nur auf das Licht, und der Anblick schnürte ihr die Kehle zu. Der Styx veränderte sich
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