Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
kurzer Zeit schon verabschiedete sich Kolob mit dem Hinweis, dass er sich mal wieder bei seiner Dienststelle sehen lassen müsse.
Etwa eine halbe Stunde später, als die Beamten gerade Bernds Freundeskreis durchhechelten, klingelte das Telefon. Sofort hielten alle den Atem an. Der Leiter der Mordkommission nickte Nora zu. Sie hob ab. Rauschen im Hörer. Sie drückte auf den Knopf zum Mithören. Das Rauschen begann das Zimmer zu erfüllen.
"Hier Nora!"
Diesmal war die Stimme ganz nahe, fast in Noras Kopf. "Das kommt davon, wenn einer den Kopf zu weit vorstreckt", hörte Nora ihn sagen. Es folgte ein blubberndes Lachen. Einer der Beamten schlich aus der Türe. Wahrscheinlich versuchte er über sein Autotelefon die Einsatzleitung zu erreichen und eine Fangschaltung zu organisieren.
"Du verdammter Ekeltyp!" , brauste Nora auf.
"Aber, aber, kleine Nora", fiel ihr der Anrufer ins Wort. "Nicht so heftig, Wir beide wissen doch, dass die kleine Nora in Wirklichkeit ein ängstliches kleines Hascherl ist." Nora fühlte sich ohnmächtig. Der Verlust Bernds schien ihr alle Kraft aus den Knochen gesaugt zu haben. Sie schwieg.
"So ist es besser", reagierte der Anrufer prompt. "Ich liebe Frauen, die wissen, wann sie das Maul zu halten haben. Und du weißt es. Das hat mir an dir schon immer so gut gefallen. Auch damals im Krankenhaus. "
Nora horchte auf, als dieser Hinweis fiel und mit ihr alle Beamten.
"Was ist mit diesem Krankenhaus?" , fragte sie.
"Na, du wirst es doch nicht vergessen haben? Jene unvergesslichen Nächte im Banne vielzähliger Ampullen von Beruhigungsmitteln?" Der Anrufer kicherte und hängte ein.
"Haben Sie eine Ahnung, wovon dieser Verrückte sprach?"
Nora schüttelte den Kopf, und doch bewegte sich etwas in ihr.
Das Schweigen breitete sich aus wie eine Öllache auf dem Wasser. Das Pendel der schweren Wohnzimmeruhr glänzte bei jedem Schwung. Dieses monotone Aufblitzen nahm Nora mit in den Rhythmus ihres Herzschlages. Ihr Bewusstsein glitt an ihm zurück in die Nebel einer fernen Vergangenheit. Oder war es ein anderes Leben, eines, das sie lange Jahrhunderte vor diesem gelebt hatte?
Plötzlich roch sie wieder diesen ekelhaften Geruch. Und mit dem monotonen Glänzen des Uhrpendels kam die Erinnerung an diesen süßlich stinkenden Atem zurück, der sich rhythmisch über sie ergoss. War sie das, Nora, dieses Kindchen mit Gliedern so zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe? Und dieses Monster vor ihr. Ein Gespenst mit gelben Fangzähnen. Ein Gesicht, weiß wie der Mond, der im Märchen ruft: "Ich rieche Menschenfleisch, ich rieche Menschenfleisch".
Die kleine Nora spürt einen harten Stuhl unter sich, und etwas hält sie darauf fest. Sie ist angebunden. Sie hat den Kopf so weit zurückgeworfen, dass die Spannung in ihren Halswirbeln lebensgefährlich ist. Sie fühlt, wie ihr die Beinchen auseinandergedrückt werden. Die gefräßigen gelben Zähne nähern sich der zarten Haut ihrer Schenkel.
Das Öffnen und Schließen der Wohnzimmertüre holte Nora aus ihrer erinnernden Trance heraus.
"Es hat nichts genützt", sagte der Eintretende. Er wurde aber schnell zum Schweigen gebracht. Die Anwesenden hatten wohl gemerkt, dass in Nora Wichtiges vor sich ging. Aber der Augenblick des Erinnerns war vorbei: "Ich war noch nie im Krankenhaus, außer jetzt bei Rut", sagte Nora. Die Beamten setzten die Vernehmung fort.
*****
Mark Kolob sah die Lichter der Stadt vor sich liegen. Sein Wagen schnurrte wie eine Katze. Mark liebte leise laufende Motoren. Aber er war weit davon entfernt, den Abend genießen zu können. Noras Angst und dazu Bernds verdrehte Gestalt in diesem Baum wichen ihm nicht aus dem Kopf. Mark fuhr sehr langsam, was er immer tat, wenn er sich belastet fühlte. Er nahm den Bahnübergang nur mehr im Unterbewusstsein wahr. Die Schranken schlossen sich. Mark hielt dicht vor der rotweißen Barriere und stellte den Motor ab. Mark sah im Rückspiegel, wie sich von hinten große Scheinwerfer näherten. Offenbar ein Lastwagen, der ganz langsam näher rollte. Von rechts hörte Mark den Zug sich nähern. Er beugte sich vor, um eine Cd einzulegen. Irgendetwas Entspannendes. Er tastete herum, weil er nicht sofort den Schlitz des Players fand. Plötzlich wurde es taghell in seinem Wageninneren. Der LKW hinter ihm hatte alle Lichter gesetzt. Mark hörte das Aufheulen von runden dreihundert PS, und dann spürte er sie auch. Sein Wagen wurde gegen die Bahnschranke geschoben. Die dicke Metallstange schrammte über
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