Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
gewandet ins Zimmer trat, war kein Pfleger. Niemand hätte es Nora zu sagen brauchen. Sie wusste es sofort: Das war ihr Folterknecht.
"Kleine Nora!", sagte er und lachte, keuchend, blubbernd und sehr ungesund. "Kleine Nora!"
Die weiße Gestalt glitt auf sie zu. Ihre Bewegungen erinnerten an etwas, das unbedingt in ein ganz tiefes Erdloch gehörte. Nora konnte das Gesicht ihres Peinigers auch jetzt nicht erkennen. Bei jedem Schritt klang es, als habe die Gestalt Wasser in den Schuhen.
"Ich werde jetzt mit dir wachen, kleine Nora." Er wies auf Rut. "Die da lebt nicht mehr lange. Dann bist du allein. Dann habe ich dir alles genommen. Dann hast du nur noch mich. Und so sollte es ja auch sein. Das war ein schwerer Fehler, dich mit diesem Typen einzulassen. Du hättest aus dem Debakel deiner ersten Ehe lernen sollen. Du bist nicht für Männer geschaffen. Diesen hyperklugen kleinen Polizisten habe ich auch noch erledigt. Nicht dass du meinst, ich hätte jemanden vergessen. Ich lasse keinen aus. Du bist nur für mich geschaffen."
Die Gestalt zog sich einen Stuhl heran und ließ sich am Fußende des Bettes nieder. In dem Augenblick, als er sich setzte, fiel das Licht der Bettbeleuchtung auf sein Gesicht und sie erkannte ihn.
Und sofort fiel ihr ein, dass sie ihm das letzte Mal begegnet war, als sie achtzehn war. Sie war mit dem Wagen ihres damaligen Freundes Günter unterwegs gewesen und hatte in einer scharfen Kurve auf regennasser Fahrbahn die Gewalt über das Steuer verloren. Es stand Nora sofort wieder vor Augen, die Kurve, die glänzende Fahrbahn, das Schleudern, das Überrollen des Fahrzeuges. Dann lag sie auf einer Bahre im Krankenwagen. Freundliche Helfer um sie herum. Das nächtliche Krankenhaus. Nora war nicht schwer verletzt. Aber der Schock machte sich gefährlich bemerkbar. Sie gaben ihr Beruhigungsmittel. Ihre verletzte Haut wurde versorgt, dann legten sie Nora in ein ruhiges Einzelzimmer. Trotzdem schlief sie in jener Nacht sehr unruhig. Gegen drei Uhr Morgens wachte sie auf. Sie war sofort glockenwach, weil sie spürte, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Nora wollte sich aufsetzen, aber ein breiter Gurt um ihren Oberkörper verhinderte das. Ihr wurde kalt, denn ihre Beine waren aufgedeckt. Jetzt erkannte sie die massige Gestalt am Fußende als den, der sie immer schon gequält hatte. Gelbe Fangzähne lauerten ihr entgegen. Ein großes Gesicht, von dem faltige und kranke Haut herabhing, schob sich mit schmatzenden Geräuschen ihrem wehrlosen Unterleib entgegen. Nora versuchte zu schreien. Aber ihr Gesicht wurde abgedeckt, so dass sie fast erstickte. Sie versank in dem roten Meer der Schmerzen.
Als sie am nächsten Tag der Krankenschwester von ihrem nächtlichen Erlebnis z u erzählen versuchte, lächelte diese nur mitleidig. "Der Schock", sagte sie, "Kindchen, das ist der Schock."
Nora konnte ihren Atem nicht mehr kontrollieren. Keuchend durchfuhr er ihre Lungen, als wäre sie schon zehntausend Meter gelaufen.
"Es ist wirklich ungewöhnlich angenehm, dich hier im Krankenhaus wieder zu treffen." Die weiße Gestalt erhob sich. Über die Schultern hatte sie einen breiten Gurt gelegt. "Du wirst dich jetzt auf dieses feine, weiße, zweite Bett legen, kleine Nora."
Aber Nora wollte sich nie mehr auf irgendwelche weißen Betten legen. Sie sprang auf. Er schnitt ihr den Weg zur Türe ab. Dann stürzte er mit der Aggressivität eines Raubtieres auf sie zu. "Das solltest du nicht tun. Lehne dich nicht gegen mich auf! Das macht mich schrecklich wütend." Er schleuderte sie gegen die Fensterbank und versuchte ihr den Gurt um die Arme zu schlingen. Nora schlug mit aller Kraft auf ihn ein, aber es war, als würde sie auf einen nassen Schwamm einprügeln. Es hinterließ keinerlei Wirkung. Er zwang ihr die Arme gegen den Körper und hakte den Gurt fest. Schließlich warf er sie auf das zweite Bett und beugte sich über sie. Sie roch seinen süßlich stinkenden Atem und den ekelhaften Geruch seiner Kleidung. Nora drehte ihren Kopf weit zurück.
"Ja, da rümpfst du die Nase. Der Umgang mit Leichen ist eben nicht zu vergleichen mit der Arbeit in einer Parfümerie."
Sein weißes Gesicht, breit wie ein Vollmond, kam ihr immer näher und riss sie gewaltsam in den Brunnenschacht der eigenen Vergangenheit zurück. Sie sah ihn, viel jünger, aber doch unverkennbar ihn, wie er sich jeden Morgen im weißen Anzug des Klinikpersonals zur Arbeit aufmachte. Über diese Arbeit durfte zu Hause nicht gesprochen werden. Die
Weitere Kostenlose Bücher