Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
Fremde.
"Ist gut", gab Mikey großzügig zu verstehen. Er hatte nichts dagegen, dass der große Mann ihn begleitete. Dann konnte der gleich mal sehen, was ein kleiner Junge alles vermochte.
"Du hast Feuer in dir", sagte der große Mann.
Mikey verstand das zwar nicht ganz, weil ihm eigentlich schon ein bisschen kalt geworden war. Aber vielleicht empfand der Fremde das anders.
Sie gingen den schmalen Weg entlang, der in den Wald über den Berg zu dem Tal führte, in dem die Stadt lag, in der Mikey mit seiner Familie wohnte. Eine halbe Stunde später wusste Mikey nicht mehr weiter.
"Ich weiß, wie du nach Hause kommst", sagte der Fremde. Sie gingen in eine andere Richtung. Inzwischen war es völlig dunkel geworden und die wenigen Nachtvögel des Winters erwachten, jedenfalls die, die bei dieser Kälte auf Jagd gingen.
Nun aber war der Fremde fort und dort lag eine Stadt. Mikey stieß auf eine schwarze, glatte Straße. Ein hell beleuchtetes Schild stand am Straßenrand. Mikey konnte nicht lesen, dass auf dem Schild SENEXCITY stand, und: BEFAHREN BEI NACHT UNTERSAGT. Es hätte ihm auch nichts gesagt, denn seine Heimatstadt hieß anders. Er kannte das Schild nicht. So ein Schild hatte er in seiner Stadt noch nie gesehen. Also hatte ihn der Fremde tatsächlich verraten. Dunkel begann er sich zu erinnern, dass der Mann ja auch gar nicht gefragt hatte, wo er wohnte. Woher also sollte er Mikeys Stadt kennen? Mikey fühlte, wie er aus dem schützenden Bannkreis der elterlichen Güte heraus fiel. Und er spürte, wie ihn die kindliche Zuversicht verließ, die darauf vertraut, dass Erwachsene es irgendwie immer gut meinten. Er begann zu ahnen, dass dieser Fremde etwas anderes war, als sein Vater oder Onkel Chen oder Nachbar Tom. Vielleicht war er ein Freund von Tante Shirley? Vielleicht war der Mann wirklich böse?
Mikey fühlte , wie er wütend wurde. Wie kann man nur einen kleinen Jungen mitten in der Nacht falsch führen? Er war jetzt so wütend, dass er sich vorstellte, wie er einen großen Stein nach dem Mann warf. Mikey hatte einmal diesem riesigen, bösen Hund vom Nachbarhof mit einem Stein mitten ins Maul getroffen, als der ihn geifernd ankläffte. Der große Hund hatte den Schwanz eingezogen und sich heulend davon gemacht.
Wenn Steine sehr gut waren gegen böse Hunde, waren sie bestimmt auch sehr gut gegen böse Menschen. Plötzlich verlor Mikey das Gleichgewicht. Um ein Haar wäre er in die tiefe Autofalle gestürzt, in einen Graben, der sich quer über die Straße zog und tief unten mit Wasser gefüllt war. Zwei Wagen hatten sich schon darin gefangen. Von oben sahen sie völlig zerschmettert aus. Luftblasen stiegen aus den Spalten der Türe, die jemand von innen zu öffnen versucht hatte und bildeten im Mondlicht blau schillernde Blasen auf der Oberfläche. Ein nackter Arm ragte aus dem Türspalt, zeigte mit geöffneter Hand nach oben und schwankte unter Wasser hin und her wie eine schlanke, bleiche Blume.
Eine Autofalle, dachte Mikey. Hier fängt einer Autos, wie Onkel Chen die Kaninchen. Onkel Chen mochte keine Kaninchen, ja, er betrachtete sie als seine persönlichen Feinde, weil sie immer wieder in seinen Gemüsegarten einfielen. Hier schien jemand Autos nicht zu mögen. Autofalle, Autofalle, dachte er immer wieder, um nicht weiter denken zu müssen: Menschenfalle, Menschenfalle. Mikey balancierte über den schmalen Rand auf der rechten Seite des Loches und strebte weiter der Stadt entgegen. Vielleicht hatten sie dort noch nicht gemerkt, was hier passiert war.
Vielleicht waren sie ihm dankbar, wenn er es ihnen sagte. Die ersten Häuser standen stumm am Straßenrand. Mikey zögerte. Ihn wunderte, dass kein Hund bellte. Komische Stadt!
Vorsichtig ging er weiter. Schlagartig wurde es taghell. Scheinwerfer flammten auf. Eine Sirene schrillte und eine Lautsprecherstimme wiederholte laut kreischend: Stehenbleiben, Stehenbleiben...! Mikey schrie unwillkürlich auf. Von links sprangen fünf schreckliche Gestalten auf die Straße. Der Fremde war schon sehr groß gewesen. Aber diese fünf waren größer. Größer als alle wirklichen Menschen, die Mikey kannte. Sie schwangen ihre riesigen Arme wie Dreschflegel, teils mit Säbeln bewaffnet, teils Waffen haltend, die Mikey nicht kannte, die aber jede Menge Feuer spuckten. Sie sprangen bis in die Mitte der Straße vor und taumelten in gespenstischem Tanz. Im grellen Licht der Scheinwerfer sah Mikey in Gesichter, deren Fleisch sich im blauschwarz fortgeschrittenen
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