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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Béchar
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nachdenken zu können. Alles, was ich über meine Familie in Erfahrung gebracht hatte, erschütterte mich. Die Tränen kamen wieder hoch, sobald ich an meine Mutter dachte. Ich versuchte, ihr Bild zu verdrängen, und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um mich wieder zu fangen.
    Als ich die eine Strähne, die mir ständig ins Gesicht fiel, im Spiegel sah, musste ich sofort an Manuel denken. Seine Finger hatten mich kaum berührt und doch hatte ich am ganzen Körper gezittert. Ich schloss meine Augen, um ihn besser zu sehen: die langen schwarzen Locken, die braungebrannte Haut, die großen und frechen Augen, das unwiderstehliche Lächeln, den gut gebauten Körper. Je mehr ich an ihn dachte, umso unruhiger wurde es in meinem Bauch. Annas Worte erklangen in meinem Kopf:
Lerne, auf dein Herz und deinen Körper zu hören.
Natürlich hatte sie meine Begabungen im Sinn gehabt, nicht meine Gefühle für ihren Sohn. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass mein Herz und mein Körper mir das sagten, was mein Kopf nicht wahrhaben wollte: Ich liebte Manuel.
    Wenn ich diejenige war, die seine Hand nahm oder ihm einen Kuss auf die Wange gab, war das eine unbedeutende zärtliche Berührung, eine Bagatelle. Doch sobald er mich berührte, war ich total verwirrt und mein Herz fing an zu rasen. Er hatte etwas in mir geweckt, als er mich an diesem Morgen in seine Arme genommen hatte. Was geschah mit mir? Konnte ich alles besser wahrnehmen, weil sich meine Sinne über Nacht entwickelt hatten? Oder lag es ganz einfach daran, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich verliebt war? Ich fragte mich, ob ich das Gleiche empfunden hätte, wenn er mich vor der Verwandlung umarmt hätte? Wie sollte ich je sicher sein?
     

    An diesem Abend schlief ich mit Manuel ein – zumindest in Gedanken. Nun wusste ich, dass ich nicht mehr in der Lage war, ihm zu widerstehen. Ich wollte auch gar nicht mehr gegen meine Gefühle ankämpfen und gab mich in meinen Träumen seinen Berührungen und Küssen hin.
    „ Lilly, Lilly, wach auf! Es ist nur ein Albtraum, hörst du, … nur ein Albtraum.“
    Jemand schüttelte mich. Ich glaubte, die Stimme meines Vaters zu erkennen. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihn: Mit zerzaustem Haar saß er in Shorts auf meiner Bettkante. Über mich gelehnt, hielt er mich an den Schultern, und schaute mich besorgt an.
    „ Was ist bloß mit dir los, mein Spatz?“, fragte er leise, und drückte mich dabei an sich.
    Er hatte mich schon ewig nicht mehr „sein Spatz“ oder „sein Schatz“ genannt, wahrscheinlich fand er mich jetzt entweder zu alt oder zu jung dafür. Er hatte es nicht mehr getan, seit dem einen bestimmten Tag, als wir in einem Park um die Wette gerannt waren. Außer Atem hatten wir uns auf eine Bank fallen lassen. Ich hatte mich an ihn gekuschelt, er hatte spontan den Arm um mich gelegt. Passanten warfen uns vorwurfsvolle Blicke zu, als ob sie annahmen, er hätte sich ein junges Mädchen geangelt. Damals mussten wir beide darüber lachen. Später wurde mir jedoch klar, dass es ihn doch beschäftigte, denn seither vermied er jeglichen Körperkontakt außerhalb unseres Hauses.
    „ Wenn du weiterhin solche Albträume hast, werde ich einen Termin bei Frau Lacroix machen“, versprach er.
    „ Nein! Mach dir keine Sorgen. Es wird schon wieder … Ich gehe unter die Dusche und trinke ein Glas Milch, dann kann ich bestimmt wieder schlafen. Geh ruhig ins Bett.“
    „ Ich werde nicht um drei Uhr morgens mit dir darüber diskutieren, wir sprechen uns aber noch. Gute Nacht!“
    „ Gute Nacht, Papa.“
    Kaum war er aus dem Zimmer, vergrub ich das Gesicht in den Händen. Ich war entsetzt. Das Bild von Manuel, den eine Horde Werwölfe zerfleischte, stand mir noch lebhaft vor Augen. In meinem Traum wurde er vom Rat verurteilt, weil er sich mit einer Hybrid-Frau eingelassen hatte. War das eine Vorahnung, sozusagen eine neue Gabe, oder wollte mich mein Unterbewusstsein nur an etwas erinnern, das ich versucht hatte, zu verdrängen? Oh Manuel … endlich war ich soweit!
Für eine Nacht bin ich deine Freundin gewesen, und du wirst es nie erfahren.
Ich fing an zu weinen. Langsam kam ich mir wie eine Heulsuse vor. Als ich nach einem Papiertaschentuch auf meinem Nachttisch griff, fiel mein Blick auf den gelben Stein. Ich nahm ihn fest in die Hand und beschloss, Annas Rat zu folgen: Ich würde ihn für den Rest der Nacht tragen.
    Schweißgebadet ging ich erstmal unter die Dusche. Anschließend begab ich mich in die Küche,

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