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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Béchar
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um ein Glas Milch zu trinken. Auf dem Rückweg holte ich einen Wollfaden aus der Kommode heraus. Leise schlich ich mich in mein Zimmer und befestigte den Stein an meiner Behelfskette, damit ich ihn unter dem alten Hemd meiner Mutter tragen konnte. Im Bett machte ich die oberen Knöpfe doch wieder auf: Ich wollte unbedingt den Talisman mit der Hand berühren. Würde er mir weitere Albträume ersparen? Ich hatte keine Ahnung, spürte jedoch, wie ich langsam ruhiger wurde. Als ich die Augen schloss, war Manuel wieder da. Lust- und Glücksgefühle waren aber verschwunden. Er hielt mich in den Armen, tröstete mich und wiegte mich in den Schlaf.
     

    „ Lilly, aufstehen!“
    Die Stimme meines Vaters kam von weit her … sehr, sehr weit, und ich drehte mich in meinem Bett um.
    „ Lilly, es ist sieben Uhr. Ich muss gehen, ich habe einen wichtigen Termin.“
    „ Hmm.“
    „ Lilly, aufstehen!“, wiederholte er gereizt.
    Ich wollte nur, dass er ging, dass er mich in Ruhe ließ, deshalb murmelte ich: „Du kannst gehen, ich bin wach.“
    Anscheinend fehlte es an Überzeugungskraft, denn ohne es mit weiteren Worten zu versuchen, zog er mir die Decke weg, und warf sie auf den Boden. Ein Knurren entwich meiner Kehle. Zum ersten Mal öffnete ich die Augen. Papa stand erstarrt da und schaute entgeistert auf meine nackte Brust. Was verstörte ihn so? Mein Busen? Der Stein auf meiner nackten Haut? Das Hemd, das Mama nach dem Aufstehen so gerne trug? Alles zusammen? Schnell bedeckte ich meine Brust, holte dabei den Stein hervor und meinte: „Die Kette ist kaputtgegangen.“
    Lächelnd setzte er sich zu mir. Als er dann meine Stirn küsste, meinte er leise: „Ich kaufe dir eine neue.“
    Plötzlich sah er auf seine Uhr und stand auf.
    „ Du heiliger Strohsack, ich komme noch zu spät. Ich versuche, heute Abend früh nach Hause zu kommen. Wir müssen unbedingt miteinander reden. Du versprichst mir aber, dass du jetzt aufstehst.“
    Um ihn zu beruhigen, sprang ich aus dem Bett. Das Hemd, das immer noch offen war, entblößte dabei einen Busen. Verlegen verschwand mein Vater rasch aus dem Zimmer.
    Noch nie hatte ich ihn so erlebt. Wir liefen zwar nicht ständig nackt durchs Haus, aber da es bei uns keine Schlüssel gab, kam es immer wieder mal vor, dass jemand das Badezimmer betrat, während ein anderer drin war. Noch nie wurde eine große Sache daraus gemacht. In der Regel entschuldigte man sich und ging einfach raus, ohne den anderen weiter zu beachten … ohne verlegen zu sein. An diesem Morgen war das anders gewesen.

7
     

     

     

     

    Überrascht stellte ich fest, dass Marie mir ein Brot für die Schule geschmiert hatte. Sicherlich ein Vorschlag meines Vaters, der befürchtet hatte, ich würde zu lange trödeln. Es kam selten vor, dass er das Haus so früh verließ. In der Regel frühstückten wir zusammen. Aber schließlich war dies kein normaler Tag gewesen, auch nicht die zwei davor. Nachdenklich trank ich meinen Milchkaffee mit kleinen Schlucken.
    „ Träumst du oder was?“, Marie riss mich aus meinen Gedanken.
    „ Wie bitte?“
    „ Ich sagte, Manuel wartet vor dem Haus, auf dich.“
    „ Manuel?“, wiederholte ich verdutzt.
    „ M, A, N, U, E, L, Manuel”, buchstabierte sie, als wäre ich schwer von Begriff.
    „ Ja okay, ist schon gut. Ich habe verstanden. Musst du nicht endlich zur Schule?“
    Wir nahmen beide unsere Sachen und verließen das Haus. Ich gab ihr den Garagenschlüssel, damit sie ihr Fahrrad rausholen konnte, und ging zu Manuel. Er saß auf seinem Roller, den Helm auf dem Tank, und strahlte mich an. Oh je! Es war dieses Lächeln, das ich so an ihm liebte. Ich spürte einen Stich in der Brust, durfte aber nicht schwach werden. Das Bild vom zerfleischten Manuel ließ mich nicht los. Betrübt lächelte ich zurück. Als er meine Hand nahm, zuckte ich zusammen, küsste ihn jedoch auf die Wange, um ihn zu begrüßen ... so, wie ich jeden anderen Freund begrüßt hätte. Es hatte nichts mit den flüchtigen und schüchternen Wangenküssen vom Vortag zu tun. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass Marie losfuhr. Ich konnte keine Zeugin meines Unbehagens brauchen. Manuel, der meine Distanz spürte, verlor an Selbstsicherheit und fragte zögernd: „Kann ich dich mitnehmen?“
    „ Ich kann selber fahren“, schoss es aus meinem Mund.
    „ Wir haben beide um vier Schluss, deshalb dachte ich …“
    Mir pochte das Herz immer schneller in der Brust. Es war bestimmt ein Fehler, aber ich stimmte zu. Ich holte

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