Im Morgengrauen
ich erkannte sie sofort! „Guten Tag hübsches Mädchen!“
„ Du wirst doch nicht wieder damit anfangen“, sagte ich leicht aggressiv.
„ Womit soll ich nicht wieder anfangen?“
Er wusste genau, was ich meinte, das verriet sein Lächeln.
„ Mich anbaggern.“
„ Was stört dich? Das Wort
hübsch
?“
„ Nicht jeder kann sich für unwiderstehlich halten“, sagte ich schnippisch.
„ Wenn du mir sagst, wie du heißt, dann weiß ich das nächste Mal, wie ich dich ansprechen soll.“
„ Lilly.“
Er setzte sich neben mich und streckte mir die Hand entgegen.
„ Es freut mich, dich wiederzusehen, Lilly. Ich heiße Yannick.“
Ein sonderbares Gefühl durchströmte mich, als er meine Hand berührte.
„ Ist mir bekannt, ich kann lesen.“
„ Ich habe heute Morgen auf dich gewartet. Du hättest wenigstens anrufen können“, warf er mir vor.
„ Sorry, ich habe deine Nachricht zu spät abgehört“, flunkerte ich.
„ Lilly. Das ist ein sehr schöner Name. Entschuldigung! Ich wollte natürlich hässlich sagen. Heißt du wirklich so oder ist das ein Spitzname?“
„ Ein Spitzname. Ich wurde nach meiner Großmutter benannt, mehr wirst du aber nicht erfahren. Hast du mein Mofa von der Straße aus gesehen?“
„ Nein, ich muss dich leider enttäuschen. Es ist purer Zufall, dass ich hier bin. Ich liebe diesen Ort. Anscheinend kann man seinem Schicksal nicht entkommen.“
Sein Blick durchbohrte mich.
„ Hör auf, mich so anzugucken.“
„ Wie gucke ich dich an?“
„ Du weißt ganz genau, was ich meine … so aufdringlich.“
„ Es ist, weil ich dich hübsch finde.“
„ Ich glaube, es ist vor allem, weil du dich für unwiderstehlich hältst und weil es dir gefällt, junge Mädchen in Verlegenheit zu bringen.“
„ Da täuschst du dich … auf der ganzen Linie.“ Sein Lächeln verschwand und mein Handy klingelte. Ehe ich es nehmen konnte, zeigte er mit dem Finger darauf und meinte: „Manuel am Telefon.“
Mit einem vernichtenden Blick stand ich auf und ging Richtung Straße, um ungestört sprechen zu können. Immer noch schlecht gelaunt nahm ich ab. Sofort beruhigte ich Manuel, denn sein Anruf war nicht der Anlass für meinen Ärger. Ich hatte ihm zwar am Vorabend gesagt, wir sollten nicht täglich telefonieren, aber deswegen gleich sauer werden? Nie im Leben. Ich hätte in dieser Minute viel darum gegeben bei ihm zu sein, erwähnte es aber nicht. Seine Stimme war traurig, ich war jedoch nicht in der Lage, ihn aufzumuntern. Ganz im Gegenteil, er steckte mich mit seiner Trübsal an.
Nachdenklich ging ich nach dem Telefonat zur Decke zurück. Yannick war nicht mehr da. Ich wollte mich gerade hinsetzen, als meine Augen an der Wand auf etwa drei Metern Höhe hängen blieben: Yannick bewegte sich geschmeidig den Fels hinauf, einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen auf seinen Rücken tätowiert. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden und ging näher heran, um ihn besser betrachten zu können. Die Flügel spielten bei jeder Bewegung seines Körpers. Ich war fasziniert und überrascht. Nicht, dass ich überhaupt versucht hätte, ihn mir vorzustellen. Ich war so von seinen Augen überwältigt gewesen, dass ich nicht auf die Idee gekommen wäre, mir Gedanken über seinen Körper zu machen. Wieso auch? Doch der Anblick seiner Rückenmuskulatur, seiner Arme und natürlich seiner Tätowierung fesselte mich. Es war, als hätte ich Yannick schon gesehen. Dieses Bild war mir vertraut. Hatte ich etwa von ihm geträumt? Hatte ich doch die Gabe, etwas vorherzusehen? Eine Schutzbehauptung Manuel gegenüber, weil ich ihm meine Ängste nicht hatte erklären können. Das war natürlich Quatsch gewesen.
Ich beobachtete weiterhin Yannick, versuchte mich jedoch auf seine Klettertechnik zu konzentrieren, nicht auf seinen Körper. Schließlich wollte ich diese Wand selbst bezwingen.
Als er merkte, dass ich ihn anschaute, kam er wieder runter.
„ Willst du es probieren?“, fragte er, am Boden angekommen.
„ Nein, ein anderes Mal vielleicht.“
Ich hätte es brennend gerne versucht, aber nicht vor ihm. Ich wollte mich ja nicht blamieren.
„ Es ist leichter als man denkt: Die drei ersten Meter sind schwer, weil man nur wenige Griffe hat, dann wird es kinderleicht … oder fast.“
Ich ging wieder zur Decke und bot ihm Wasser an. Schweißperlen tropften ihm an den Schläfen herab. Sein Lächeln wurde breiter.
„ Danke, ich habe alles, was ich brauche“, sagte er und griff nach seiner Jacke,
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