Im Morgengrauen

schlug. Es war das erste Mal, dass er so etwas tat. Verblüfft rieb sich Jeremy die Wange und das Kinn, und sah zu, wie Yannick die Schlüssel an sich nahm.
    „ Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass Lilly und ihre Familie Tabu sind? Ich schwöre dir, wenn ihr irgendetwas zugestoßen ist, wirst du es bereuen. Es gilt auch für euch zwei Deppen!“, wandte er sich an Loïc und seinen Freund, die an der Bar saßen.

19
     

     

     

     

    „ Jetzt kennst du meine Geschichte. Ich bin nach Hause gekommen, um das Motorrad und den Rucksack für deine Sachen zu holen. Ich wollte den Wald nach dir absuchen.“
    „ Entschuldige, dass ich an dir gezweifelt habe. Du hast dich immer wieder so seltsam verhalten, ich wusste gar nicht mehr, was ich von dir halten soll. Jetzt kann ich dich besser verstehen.“
    Er wollte mich küssen. Ich legte ihm jedoch die Hand auf die Schulter, um ihm Einhalt zu gebieten: „Eine Sache noch … die Waffen! Entschuldige, ich wollte nicht schnüffeln, ich habe nur eine Hose zum Anziehen gesucht.“
    „ Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich bin froh, dass wir darüber sprechen. Ich möchte keine Geheimnisse mehr zwischen uns. Es ist sowieso etwas, was mich sehr bedrückt, seit ich weiß, wer du bist. Lilly …“ Er zögerte weiterzusprechen. „Ich habe in der Vergangenheit Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Meine ganze Jugend hat mich mein Vater gegen die Werwölfe aufgehetzt. Nach dem Tod meiner Mutter war sein Hass so groß, dass er geschworen hatte, die Gegend zu säubern. Eines Tages hat er jedoch erkannt, dass es auch unter ihnen Böse und Gute gibt, wie überall. Das, was ich dir jetzt sage, habe ich bisher noch keinem erzählt: Auch ich habe getötet … aber ich versichere dir, ich habe immer nur in Notwehr gehandelt. Und ich würde nicht zögern, es wieder zu tun, wenn ich wüsste, dass du in Gefahr bist. Es war ein Schock für mich zu erfahren, wer du bist. Ich lag praktisch die ganze Nacht wach, habe das Für und Wider abgewogen und bin zum Schluss gekommen, dass das Schicksal uns zusammengeführt hat, damit ich auf dich aufpasse.“ Er lächelte mich kurz an, fuhr jedoch mit ernster Miene fort: „Davon abgesehen, fühle ich mich verantwortlich, denn wärst du nicht meine Freundin, wäre mein Bruder bestimmt nicht so verbissen, dich zu entlarven. Aber keine Sorge, ich werde nicht zulassen, dass er dir wehtut.“
    Er streichelte meine Wange, kam näher, um mich zu küssen, wieder bremste ich ihn.
    „ Ich bin jetzt dran mit Geständnissen. Was glaubst du, was ich bin?“
    Er schaute mich ein paar Sekunden lang überrascht an und antwortete zögernd: „Eine Werwölfin?“
    „ Es fällt dir offenbar schwer, das Wort auszusprechen. Ich bin aber keine. Ich habe noch nie die Gestalt eines Wolfes angenommen.“
    Er starrte mich an: „Und die Klamotten im Wald?“
    „ Ich habe ja nicht behauptet, ich hätte mich nicht verwandelt. Das, was ich dir jetzt sagen werde, weiß bisher niemand. Nur eine Freundin kennt die halbe Wahrheit. Selbst meine Familie hat keine Ahnung, was ich bin. Im Grunde genommen weiß ich das selbst nicht. Wenn aber herauskäme, was ich kann … was ich bin, wäre ich in Gefahr. So viel ist sicher.“
    Ich machte eine Pause und atmete tief ein und aus, wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Yannicks Ungeduld wuchs.
    „ Du vertraust mir doch, oder? Erzähl schon, du machst mir Angst. Spann mich bitte nicht länger auf die Folter.“
    „ Hast du schon etwas über Therianthropen gehört?“
    „ Einmal, ja. Ich hätte selber draufkommen sollen, als du über deine Mutter gesprochen hast. Und deine Großmutter?“, fragte er gespannt.
    Ich nickte bestätigend. „Yannick, was weißt du über uns?“
    „ Dass ihr euch in Raubkatzen verwandeln könnt.“
    „ Und was noch?“
    „ Nicht viel. Eigentlich wäre das schon alles.“
    „ Hast du schon von einem Therianthropen gehört, der sich in verschiedene Tieren verwandeln kann, ich meine grundlegend verschieden?“
    „ Nee, wieso? Versuchst du mir zu sagen, dass du …“, er unterbrach den Satz, als ich wieder nickte.
    „ Ich bin nicht durch die Tür reingekommen heute Morgen … sondern durch die Dachluke.
    „ Ein Vogel?! Was für einer?“, fragte er verdutzt.
    „ Keine Ahnung, ich kenne mich nicht aus. Abgesehen davon habe ich mich nicht in einem Spiegel gesehen. Vielleicht kannst du es mir sagen. Du bist ja der Experte. Dreißig bis vierzig Zentimeter groß, fuchsrote Federn, schwarz