Im Morgengrauen
Landschaft aus dem Fenster: Ich hatte ein freies Blickfeld. Ein ähnliches Bild bot sich vor dem Haus. Es war schier unmöglich, sich unbemerkt zu nähern. Auf der anderen Seite stand allerdings die Scheune, aus deren Schatten sich jemand an das Haus hätte heranschleichen können. Yannick hatte Recht, die Rückseite war ebenfalls eine Schwachstelle. Erstens bot sie nur zwei winzige Fenster als Ausguck, zweitens war sie viel zu nah an den Bäumen. Ruckzuck konnte jemand aus dem Wald auftauchen und sich im Nu an das Haus heranpirschen.
Kaum saßen wir am Tisch, schon fing Yannick an, uns ihre Überlegungen darzulegen:
„ Mit Manuel wollten wir euch zwei Möglichkeiten für die Wache anbieten. Vier Mal zwei Stunden, was bedeuten würde, dass jeder ganz allein jeweils die Observierung von vier Seiten übernehmen muss; oder aber zwei Wachen à vier Stunden. Das hätte den Vorteil, dass man sich gegenseitig wachhalten kann. Davon abgesehen wären zwei Seiten praktisch permanent unter Beobachtung. Der Nachteil: Vier Stunden nachts können einem sehr lange vorkommen. Es stellt sich außerdem die Frage, ob wir morgen früh noch fit sind, falls es zu einem Angriff kommen sollte.“
Sein Blick blieb an meiner Großmutter hängen, die erstarrt und blass dasaß.
„ Was haben Sie, Eliane?“
„ De madrugada
“, flüsterte sie.
„ Wie bitte?“
Manuel übersetzte: „Es heißt,
bei Tagesanbruch
.“
„ Entschuldigt mich“, räusperte sie sich, „ich musste an eine schlimme Erinnerung aus früheren Tagen in Spanien denken. Die Urteile werden immer bei Tagesanbruch vollstreckt“, erklärte sie. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ratsmitglieder nach wie vor in der Gegend leben. Hätten sie mit uns sprechen wollen, wären sie schon längst hier gewesen.“
Mit leerem Blick stand sie auf, ohne den Inhalt ihres Tellers angerührt zu haben.
Wir beschlossen, sie in Ruhe zu lassen und die Wache auf drei Schichten zu verteilen. Ich sollte die erste ab elf Uhr übernehmen und Manuel um halb zwei wecken. Er zog sich bald zurück, angeblich zum Schlafen. Ich vermutete, dass er nicht entzückt war, einen Dreier mit uns zu bilden. Yannick seinerseits konnte keine Sekunde still sitzen, noch nie hatte ich ihn so nervös erlebt. Nachdem er mir geholfen hatte, den Tisch abzudecken, ging er unter dem Vorwand raus, er könnte die Umgebung besser beobachten. Mein Blick fiel auf die Schachtel, die er vor dem Essen reingebracht hatte. Ich hatte bereits eine vage Ahnung über deren Inhalt, wollte mich jedoch vergewissern. Wie vermutet, war sie voller Munition. Da Yannick ein ganzes Arsenal im Kofferraum hatte, wunderte ich mich, dass er all die Waffen im Wagen gelassen hatte. Also ging ich raus, um ihn darauf anzusprechen, und hörte, wie er sich am Telefon mit den Worten „Bis später“ verabschiedete.
„ Mit wem sprichst du denn die ganze Zeit?“, stellte ich ihn zur Rede.
„ Lilly, ich weiß … es wird dir nicht gefallen … Ich habe Jeremy um Hilfe gebeten.“ Ehe ich etwas entgegnen konnte, streichelte er meinen Mund mit seinem Daumen. „Bitte, hab Vertrauen! Jeremy und seine Freunde werden euch nichts tun.“
„ Wie konntest du?! Und was ist mit Manu…“
„ Manuel wird auch nichts passieren. Ich habe ihn beschrieben, du hast selbst gesagt, er wäre viel größer als die anderen Wölfe, man könnte ihn nicht verwechseln. Sie wissen, dass er zu uns gehört. Glaub mir, ihr braucht euch nicht vor ihnen zu fürchten. Sie sind wahrscheinlich unsere einzige Chance, da heil rauszukommen.“
Er drückte mich an sich.
„ Was ist mit der Tasche?“
„ Sie haben sie schon. Sie haben sie geholt, als wir am Tisch saßen.“
Der Gedanke an Jeremy und seine Freunde ließ mich erschaudern. Ich konnte nicht fassen, dass Yannick unsere Leben in ihre Hände legte. Auf der anderen Seite, sollte es tatsächlich eine Hinrichtung geben, wie meine Großmutter es befürchtete, war ein Bündnis mit dem Teufel vielleicht der einzige Ausweg. Ohne unken zu wollen, jedes Mal, wenn ich mir ausgemalt hatte, wie ein Angriff ausgehen könnte, saßen wir in der Falle. Unter dieser Perspektive war es eher beruhigend, Verbündete da draußen zu haben.
Zu meiner Überraschung ging Yannick doch noch zum Kofferraum.
„ Ich dachte, die Tasche wäre nicht mehr drin.“
„ Nein, aber mir ist gerade etwas eingefallen.“
Ich näherte mich dem Wagen und sah, wie er eine CD aus einem schwarzen Köfferchen rausholte.
„ Madrugada, kennst du die?
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