Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Meinung wüsste.
Mein alter Lehrer von der Universität (in letzter Zeit denke ich oft an ihn, er heißt Cattaneo, ich weiß nicht, ob ich dir mal von ihm erzählt habe) sagte immer, ein vielleicht Schuldiger auf freiem Fuß sei besser als ein vielleicht Unschuldiger im Gefängnis. Das sehe ich auch so, auch wenn da ein Widerspruch zu sein scheint: Sind ein vielleicht Schuldiger und ein vielleicht Unschuldiger denn nicht ein und dasselbe?
Aber du hast mal gesagt, dass die Welt nicht schwarz-weiß funktioniert. Du hast mir erzählt, Teilchen könnten schwarz und weiß gleichzeitig sein und ihr Zustand sei nicht eindeutig oder klar bestimmbar. Ich weiß nicht, ob ich das richtig formuliere (wahrscheinlich nicht, denn von uns beiden bist ja du die Expertin in Quantenphysik), doch diese Wahrheit begegnet mir zunehmend auch im Alltag.
Wie siehst du das?
Ich umarme dich fest, mein Kind. Dich neulich am Telefon zu sprechen war mir eine große Freude, auch wenn es nur kurz war.
Auf hoffentlich bald,
Papa
21
« UND NUN », sagte der Alte, «bitte ich für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit. Hören Sie? Meine Damen und Herren? Ich bitte für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit!»
Paoli, der Generalstaatsanwalt, war aufgestanden und schaute lächelnd in die Runde. Er schlug mit der Gabel gegen sein Glas, so dass die Richter und Staatsanwälte von ihren Tellern aufblickten. Recalcati schaute Doni von der anderen Seite der Tafel verschwörerisch an und verzog das Gesicht.
Seit Paoli Chef war, veranstaltete er einmal im Jahr ein Essen in dieser Trattoria in der Ebene von Pavia. Er glaubte, das fördere den Zusammenhalt des Teams.
«Zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind», sagte er. «Wie Sie wissen, liegt mir viel an unserem gemeinsamen Essen. Ich bin kein großer Redner, weshalb ich mich darauf beschränken möchte, Ihnen zu sagen, dass wir auch dieses Jahr gute Arbeit geleistet haben, trotz der unzähligen Steine, die uns von der Regierung und anderen in den Weg gelegt werden. Doch um Himmels willen, mehr sage ich nicht, sonst werde ich noch abgesägt und es heißt, ich sei ein kommunistischer Spinner.» Einige deuteten aus purem Mitleid ein Lachen an. «Doch darüber wollte ich gar nicht reden. Darüber reden wir tagtäglich schon mehr als genug. Heute will ich Ihnen meinen Enkel Davide vorstellen, eine Freude, die ich gern mit Ihnen teilen möchte.»
Für einen kurzen Moment wurde es sehr still im Innenhof des Restaurants, und allen wurde klar, zu wem der Junge mit dem Downsyndrom gehörte, der neben dem Generalstaatsanwalt saß. Der Enkel stand auf. Er hatte Schlitzaugen, ein plattgedrücktes, ausdrucksloses Gesicht und dünnes, fahlblondes Haar, das ihm in die Stirn fiel.
Davide war dank der Verbindungen seines Großvaters in einer renommierten Klinik in Frankreich behandelt worden. Ihr Motto lautete, wie Paoli begeistert erzählte: Normaler als die sogenannten Normalen . Man garantierte eine Wiederherstellung der kommunikativen und geistigen Fähigkeiten zu neunzig Prozent: Ihr Junge , zitierte Paoli weiter, wird in der Lage sein, ein glückliches Leben zu führen .
Als Beweis für die erzielten Resultate hatte man Davide eine Reihe von Behindertenwitzen beigebracht. Das war der letzte Schritt, das Sahnehäubchen. Wer über seine Probleme lacht, hat sie schon hinter sich , wurde von Seiten der Klinik beharrlich behauptet.
Nun legte der Chef seine Hand auf die Schulter des Jungen und forderte ihn auf zu sprechen. Davide Paoli betupfte sich das Kinn mit der Spitze seiner Serviette und begann unbekümmert zu erzählen: «Drei Behinderte in einer Klinik. Der Arzt beschließt, sie auf die Probe zu stellen, um zu sehen, ob sie wirklich geheilt sind. Er schickt sie in drei separate Zimmer und gibt jedem ein Kaninchen, um zu sehen, wie sie es behandeln …»
Tiefste Stille. Nicht einmal ein Husten war zu hören. Doni schaute zu dem Stückchen Landschaft auf, das sich hinter der Pergola auftat. Ich bin gar nicht hier, sagte er sich. Das hier passiert gar nicht.
Als der Witz zu Ende war, brach Paoli in schallendes Gelächter aus. Sein Enkel setzte sich wieder und begann mit viel Geschick das Fleisch zu zerschneiden. Jemand lachte gequält. Dellera klatschte. Recalcati fing Donis Blick auf, und es war, als schaute er in einen Spiegel.
Paolis Stellvertreterin, eine Frau mit Adlernase aus dem Friaul, die in der Zeit der Terroranschläge mit Colnaghi zusammengearbeitet hatte, trat ihre Zigarette im
Weitere Kostenlose Bücher