Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
bitte sehr, aber nicht mehr in diesem Haus.
Das hatte gesessen, und Matteo erinnerte sich an diese Szene in all den Jahren stets als den ersten Moment, in dem er seinen Bruder wirklich respektiert hatte. Seiner Ansicht nach war er zwar im Unrecht, hatte aber sein Innerstes offenbart. Sie fingen an, sich im Flur kräftig zu schubsen, bis Matteo, der kleiner war als Doni, mit dem Hintern auf dem Boden landete und plötzlich in Tränen ausbrach.
In gewisser Weise war dies ein Wendepunkt. Nach dem Abitur, das er schließlich doch ablegte und sogar mit einem recht passablen Ergebnis, ging er für ein Jahr nach England, wo er zunächst als Küchenhilfe in einem Restaurant und dann als Bote arbeitete. Zumindest war das die Geschichte, die er bei seiner Rückkehr erzählte, ohne noch etwas hinzuzufügen. Sein Körper sprach für sich. Er war spindeldürr, bewegte sich viel vorsichtiger, und seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Seine Schwärmerei für das Bohèmeleben war ihm vergangen. (Jahre später vertraute er Doni an, dass er unsterblich in eine Norwegerin verliebt gewesen sei, die ihn auf einer Schottlandreise von heute auf morgen verlassen hatte.)
Er schrieb sich an der Universität ein. Nach dem Diplom wurde er Assistent bei einem Philologieprofessor, einem riesigen, fetten Kerl, den Matteo nur den «Obertrottel» nannte, doch nach zwei Jahren überlegte er es sich erneut anders. Er brachte es fertig, zwei Verlobungen zu lösen, eine Weile in der Toskana als Vertreter zu arbeiten, für kurze Zeit mit den Radikalen in die Politik zu gehen und an einem Gymnasium in der Gegend von Bergamo Latein zu unterrichten. Der treibt mich noch in den Wahnsinn, dabei isser so’n hübscher Junge , sagte seine Mutter, um sich zu trösten.
Er und Doni streiften sich auch weiterhin mit scheelen Blicken und besuchten sich nur selten, doch mit den Jahren fanden sie zu einem Gleichgewicht. Sie waren verschieden, das musste man akzeptieren, doch sie wussten, dass sie sich auf eine besondere, einmalige Art aufeinander verlassen konnten.
Das Leben nahm seinen Lauf. Als Matteo die fünfunddreißig überschritten hatte, fand er ein Mädchen aus Neapel, das er später heiratete, und begann mit Claudias Hilfe, die ihn dem Generaldirektor vorgestellt hatte, in der Marketingabteilung eines Non-Profit-Unternehmens zu arbeiten. Ein Haus in der Nähe des Corso Garibaldi. Zwei Kinder.
Wie alle schien er schließlich sein Glück gefunden zu haben.
Zwei Stunden später holte sein Bruder ihn ab. Er hatte ein anderes Auto, statt des Alfas, den Doni in Erinnerung hatte, hielt ein schwarzer Audi Kombi in der Via Orti. Doni stieg ein und stellte seine Tasche zwischen die Füße.
«Du hättest sie auch in den Kofferraum tun können», sagte Matteo und legte den ersten Gang ein.
«Ja, klar, es geht aber auch so.»
«Okay. Wie geht’s?»
«Gut.»
«Gibt’s was Neues?»
«Nein. Bei dir?»
«Nicht viel. Die Kleine hat Fieber, Lalla lässt dich grüßen, und Giulio, dieser Idiot, will seinen Doktor in Literatur machen.»
«Er tritt in die Fußstapfen seines Vaters.»
«Er ist ein Idiot.»
«Genau das hat Papa auch zu dir gesagt, und du hast ihn als Scheißkerl bezeichnet.»
Matteo lachte. «Ja, stimmt. Eine gesunde Vater-Sohn-Beziehung.»
Während der Fahrt redeten sie wenig. Matteo legte eine CD mit Rockmusik ein. Doni versuchte das zu ignorieren und erkundigte sich lediglich nach dem Namen der Band, es war ihm nie gelungen, Matteo von den Vorzügen der klassischen Musik zu überzeugen.
«Led Zeppelin», sagte Matteo und gab ihm die CD -Hülle. «Aus unserer Jugend. Sag jetzt nicht, dass du sie nicht kennst.»
«Ich kenne sie tatsächlich nicht.»
«Du hast jahrelang mit mir in einem Zimmer gewohnt. Ich glaub das einfach nicht.»
Doni sah sich das Cover an. Ein brennendes Luftschiff, der schwarze Rumpf stürzte vor dem Hintergrund des weißen, kompakten Himmels zu Boden. Aus dem Heck des Zeppelins drang eine Rauchwolke, die sich mit allem anderen zu vermischen schien.
Doni legte die Hülle zurück aufs Armaturenbrett und schnallte sich an. Als sie nach einigen Kilometern an einer Ampel standen, zeigte Matteo auf ein Auto auf der Gegenfahrbahn. «Sieh dir das an!»
Das Auto hatte ein großes Holzkreuz auf dem Dachgepäckträger. Die Seitenbalken des Kreuzes ragten mehr als einen Meter über den Rand hinaus.
«Darf man denn ein Kreuz so transportieren?», fragte er.
«Das glaube ich wirklich nicht», sagte Doni.
«Was meinst du, ist
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