Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Verkehrsinsel ein Stück weiter begann er sich wirklich umzuschauen. Er betrat ein chinesisches Lebensmittelgeschäft und schlenderte zwischen den Regalen umher. Büchsen, Schachteln und Päckchen mit fremden Esswaren standen neben Reis, Flaschen mit Soßen und Getränkedosen. Die Schriftzeichen unterbrachen das westliche Bild der Straße und öffneten einen Raum, zu dem Doni keinen Zugang hatte. Dies mochten die Namen von Gemüsesorten sein, doch sie sahen aus wie die Namen von Göttern.
Draußen traf er auf einen fliegenden Händler, der einen zweirädrigen Karren zog. Darauf hatte er zwei Dosen befestigt, über denen ein Wollpullover lag. Er blieb stehen und fragte Doni, ob er einen Snack wolle. Dabei nahm er den Pullover weg. Stückchen von hartgekochtem Ei, vielleicht, und Brot. Vielleicht. Doni lehnte ab und ging weiter.
Was machst du hier bloß. Was machst du hier bloß. Er musste mit jemandem sprechen. Er fragte eine Frau mit weißer Schürze, die, die Hände in die Seiten gestützt, seelenruhig vor einer Bar stand, nach der Uhrzeit. Sie gab ihm Auskunft, und Doni freute sich, einen klaren, einfachen, exakten Satz zu hören. Ich frage dich, wie spät es ist, und du antwortest mir.
Vor einem kleinen Platz parkte ein Militärtransporter. Doni hielt an, um sich am Kiosk eine Zeitung zu kaufen, und musterte drei bewaffnete Zwanzigjährige in ihren Tarnanzügen, wobei er einerseits dachte, dass sie gut dort standen, denn Sicherheit ging über alles, doch sich andererseits fragte, wie man denn auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet ungeschulte Soldaten auf die Straße zu stellen.
Er setzte seinen Weg fort. Ein Pornokino im Stil der Siebziger. Noch ein Zeitungskiosk. Heruntergekommene Bars in Schockfarben, Neonrosa und flackerndes Blau. Auf der anderen Straßenseite ging ein Mann in einem grauen Regenmantel, das Haar im Nacken lang, die Hände in den Taschen, und schrie: «So läuft das eben, sagen sie. So läuft das. Na, ich werd’ euch zeigen, wie das läuft! So nicht!» Er blieb stehen und zeigte mit dem Finger auf die ganze Straße, um sie in seine Entrüstung einzubeziehen.
Doni sah Obstkisten vor den Geschäften. Eine zwischen Wohnblocks eingekeilte Baracke und einen großen Supermarkt, vor dem zwei Bettler lungerten. Den ramponierten Asphalt des Bürgersteigs. Bröckelnden Putz. Fenster ohne Rollläden und Gestalten, die wie im Traum auftauchten und verschwanden. Die Sonne trüb hinter den Wolken, wie die Kerzenflamme bei La Tour. Die Verkündigung der Gefallenen.
Er suchte nach etwas, was ein Bedauern verheißen könnte. Nach einem Zeichen, einem Symbol, das das Geheimnis dieser Straße offenbarte, nach etwas Ergreifendem, das Mailand rächen könnte. Es konnte doch nicht alles nur Schaffen, Bewegung und Aktion sein. Es musste doch noch andere Worte geben, um diese Stadt zu beschreiben. Doch das Verständnis auf dieser Ebene war schwer – es war gefühlsbetont. Eine Kunst, in der er nicht geübt war. Was konnte er im Grunde von sich erwarten. Er war einer, der Urlaub nahm, um doch wieder ins Büro zu gehen.
Vor lauter Ankämpfen gegen das Böse, überlegte er, denkst du, die ganze Welt ließe sich nur darauf reduzieren, auf den Gegensatz zwischen Räuber und Gendarm, ein Spiel mit denkbar einfachen Regeln: Am Ende denkst du, dass außerhalb des Justizpalastes nichts existiert, dass die Tausenden Seiten eines Urteils gegen die ’Ndrangheta absolut alles umfassen, was es im Universum zu sagen gibt und was die Leute aus Ignoranz oder Bequemlichkeit nicht wahrnehmen. Und dass sogar die Schönheit – sogar Musik, Kunst, Liebe – nur flüchtige Lichtfünkchen sind, nur unbeständige Bruchstücke, Teilchen, die so instabil sind, dass sie in Sekundenschnelle vergehen: nichts Wahres, nichts Wesentliches, nichts, was dem Ansturm des Schmerzes widerstehen könnte.
Auch deshalb war er hier, auch deshalb.
Er wandte sich nach links und spürte das nahegelegene Wasser, den Naviglio della Martesana. Er kam ans Kanalufer, verfallene Dämme, ein bisschen Schilf und hinter ihm ein Park und ein Platz voller Wohnwagen. Ein kleiner, künstlicher Hügel durchschnitt die Landschaft. Auf den Bänken der eine oder andere Junge mit dem Rucksack zwischen den Füßen: die Schule schwänzen, im Freien Zigaretten rauchen.
Doni ging ein Stück am Kanal entlang. Auf der anderen Seite standen Häuser am Wasser, und ab und an war ein trostloses Gärtchen zu sehen, mit blauen Plastiktonnen, wie sie sein Onkel benutzte, um Mist
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