Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
zu pressen.
Er kehrte zur Via Padova zurück, diesem zweiten Kanal, den er befahren musste, und nahm wieder Kurs aufs Stadtzentrum. Die Häuser und Straßen wurden plötzlich uninteressant. Er musste hier weg. Er landete in einem Gewirr kleiner Straßen hinter dem Viale Monza. Eine Weinhandlung und ein von zwei dicken Italienern geführtes Lebensmittelgeschäft wetteiferten darum, wer als Erster den Rollladen hochgezogen haben würde.
Doni kehrte in einem Dönerladen ein, um einen Pfefferminztee zu trinken. Er nahm die Tasse mit hinaus zu den Tischen vor dem Geschäft und atmete tief durch die Nase ein – den Geruch nach Gewürzen und Leder. Als er ausgetrunken hatte, hielt er noch einen Augenblick inne, um diesen Abschnitt der Straße zu betrachten und auf das Rattern eines Zuges ganz in der Nähe zu horchen, Gleise, die in Beton erstickten.
Vielleicht tat es nichts zur Sache, und mit Sicherheit wog es nicht ein Gramm der Gewalt auf, doch als er sah, wie das Licht in dieses Viertel einbrach, während er zur Station Rovereto unterwegs war, um nun zur Arbeit zu hasten, erblickte er ein Stückchen Schönheit und Wahrheit, und es spielte keine Rolle, dass es schmerzvoll war und entstellt. Nur hier, wie in einem Pulsschlag durch die Körper der Betrunkenen und Verrückten und durch leere Flaschen und verbrannte Matratzen, nur hier war ihm der Gedanke möglich, dass es noch Wahrheit gab.
30
MÜDE UND VERSCHWITZT betrat er den Justizpalast durch den Haupteingang und nahm eine der schwarzen Nebentreppen nach oben, Seitenschiffe einer weltlichen Kathedrale. Im Ehrensaal verweilte er einen Moment. Die faschistischen Reliefs waren noch an ihrem Platz: Cäsar zu Pferd und an seiner Seite Mussolini zu Pferd, dem man allerdings aus Anstand die Nase weggemeißelt hatte. Nun hätte er sonst wer sein können, doch, so überlegte Doni, war es immer noch Mussolini.
Er wandte sich nach rechts. Nur wenige wussten, dass in der Loge über den Reliefs früher eine Barbierstube gewesen war. Doni bedauerte es sehr, dass er sich dort nie hatte rasieren lassen. Nicht so sehr wegen der Qualität der Rasur, als vielmehr, weil er dann etwas zu erzählen gehabt hätte, von einem Teil des Palazzos, der einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts zu entstammen schien und nicht dem Albtraum eines Wahnsinnigen.
In einem der Gerichtssäle fand gerade eine Verhandlung statt. Doni trat ein. Er blieb im Hintergrund stehen und lehnte sich an eine der Holzbänke. Offenbar ging es um ein Drogendelikt. Der Wachposten neben ihm erkundigte sich mit dem üblichen prüfenden Blick, den Doni zu schätzen wusste, ob alles seine Richtigkeit habe.
«Ich bin Oberstaatsanwalt», sagte er und zückte seinen Ausweis.
«In Ordnung», sagte der Wachmann zackig und entfernte sich wieder.
Im Anklagekäfig befanden sich zwei junge, kräftige Männer. Der eine saß, der andere ging mit einem Blick in die Runde auf und ab. Diese Käfige waren kein Ruhmesblatt, doch sehr praktisch. Bevor sie eingebaut worden waren, war einmal ein Kerl am Fenster hinaufgeklettert und hatte damit gedroht, sich hinunterzustürzen.
Doni setzte sich in die letzte Reihe. Er stellte sich vor, wie es wohl sein mochte, als Unschuldiger in diesem Käfig zu sitzen. Jemandem dabei zuzusehen, wie er über die nächsten Monate oder Jahre entschied und auf jeden Fall über das eigene Leben, während man zu Unrecht dort hinter Gittern hockte.
Natürlich war er nicht Staatsanwalt geworden, weil er irgendwann über einen Fall wie diesen nachgedacht hatte: ein Unschuldiger im Gefängnis und ein Schuldiger, den es zu bestrafen galt.
In den Comics seines Bruders lag dem Entschluss, sein Leben dem Kampf zu widmen, immer ein Trauma zugrunde, ein Schmerz, der gerächt werden musste, ein Tod. Batman und Spider-Man folgten hohen Idealen, gewiss. Sie waren Vorbilder. Doch eigentlich, und das verstand schon der junge Roberto, waren sie einfach zwei Jungen, die jemanden verloren hatten.
Er dagegen war zufällig hierher geraten. Nur Colnaghi hatte ihm die unbescholtene Seite dieser Arbeit gezeigt, und dies auch nur für kurze Zeit.
Für Colnaghi hatte Rechtsprechung etwas mit der Wiedergutmachung von Unrecht zu tun. Nichts weiter, und nicht anders, als wenn ein grundlos geschlagenes Kind von einem Freund gerächt wird. Nach Jahrzehnten der Bürokratie und italienischer Verhältnisse schlug dieses Herz immer noch. Das Reich des Bösen war zweifellos größer als das des Guten, doch nicht alles Böse durfte
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