Im Namen Des Schweins
freigeben auf die hohen Spitzen der angrenzenden Gebäude. An den meisten Tischen sitzen englische Paare, die besonders diskret sind. Das Stimmengewirr klingt weich wie das meiste von Cole Porter, das im Hintergrund den Klangteppich bildet. Der Kellner gibt ihnen einen schönen Tisch am Fenster zur Third Avenue. Sie bestellen und T freut sich, dass er Suzanne bei sich hat, die alle Fragen zu Beilagen, Getränken und so weiter übernimmt. Getränke, Brot und Butter werden sofort gebracht und dann haben die beiden erst einmal ihre Ruhe.
»Hast Du gesehen? Echte Tischdecken«, sagt T und streicht über den Stoff. »Das ist die erste, die ich in dieser Stadt sehe.«
»Und normales Besteck«, sagt Suzanne, die Gabel und Messer hochhält wie sonst im Comic der Kojote. »Das lassen sie sich ja auch ordentlich bezahlen. Hast Du die Preise gesehen?«
»Ach, ich lade Dich doch ein. Wir kennen uns jetzt schon eine Woche … Das muss ich feiern … Weißt Du, wozu ich Lust hätte? Mal mit Dir ins Ambassador zu gehen.«
»Aha … aus einem bestimmten Grund …?«
»Weil ich ein Kind aus einfachen Verhältnissen bin. Aus überaus einfachen sogar. Wenn Du mir tief in die Augen schaust, kannst Du die Narben noch sehen.«
Suzanne schaut ihm in die Augen und sucht nach einer passenden Antwort: »Ich sehe da gar nix …«
»Weil du nicht richtig schaust. Wenn eine Kindheit schlimm war, gibt es sichtbare Spuren. Im besten Fall bleibt nur das Gefühl, all denen irgendwie überlegen zu sein, die als Kinder verwöhnt wurden. Und im schlimmsten Fall bleibt eine Bitterkeit, die immerzu nach Vergeltung schreit.«
Sie nimmt das alles nicht sehr ernst, vielleicht wegen des flappsigen Tonfalls. Es klingt so, als wolle er unbedingt unterhaltsam sein, wodurch er etwas gezwungen wirkt.
»Na, dann wollen wir mal schauen … Wie arm warst Du denn als Kind? Was machte denn Deine Familie …?«
»Die Frage musst Du anders stellen: Ein Wort wie ›Familie‹ kann für mich nicht dasselbe bedeuten wie für Dich.«
Suzannes Stimme wird aufmerksamer: »Bist Du etwa ein Waisenkind … im Ernst?«
»Man könnte sogar sagen: ein Verstoßener. Das Wort klingt zwar hässlich und niemand würde es sagen, aber es trifft meine Situation genau. Oder auch ein Findelkind.«
»Ich bin mir nicht sicher, wo die Unterschiede liegen …«
»Im Englischen würde man dazu foundling sagen, was offensichtlich von dem Verb found kommt: aufgelesen, gefunden, so wie Moses in seinem Binsenkörbchen.
Die lateinischen Wurzeln haben einen anderen Beigeschmack: »expósito« kommt von dem Verb exponere, expono etcetera, was so viel bedeutet wie »aussetzen«, »herausnehmen« … Ich hoffe, dass ich Dich damit nicht langweile.«
»Überhaupt nicht. Es … langweilt mich überhaupt kein bisschen.«
»Bist Du sicher? In meiner zerütteten emotionalen Welt fühlt es sich so an, als wären alle, die in der langen Geschichte verstoßen wurden, meine Vorfahren. Daher habe ich immer das Gefühl, wenn ich von diesen Dingen rede, als hätte ich unendlich viele Angehörige.«
Suzanne lässt sich Zeit mit der Antwort: »Ich würde gern noch mehr über Deine Familie wissen. Wen auch immer Du als Deine Familie empfindest. Ich dachte … mir schien es immer so zu sein, dass Findelkinder Waisen sind, die bei Nonnen groß werden …«
»Weißt Du was eine Kinderklappe ist?« Sie schüttelt den Kopf. »Das war eine Art Abladeplatz für Neugeborene. In der Regel hatten sie die Form einer Nische, die sich drehen ließ. Sie war außen in die Mauer eingelassen, so ähnlich wie eine Grabnische, und über ihr war in der Regel im Frontispiz die Inschrift angebracht: Mein Vater und meine Mutter haben mich verstoßen / die göttliche Liebe hat mich aufgenommen. Die Mütter oder wer auch immer luden ihren organischen Müll dort ab und läuteten an einer Glocke. Von innen wurde die Kinderklappe gedreht und das Kindchen landete auf der anderen Seite der Mauern, ohne dass jemand wusste, wer es ausgesetzt hatte.«
»Wurdest Du auch in einer Kinderklappe ausgesetzt?«, fragt Suzanne ernst.
T lacht: »Nein, ich hatte mehr Glück … Diese Kinderklappen gibt es schon lange nicht mehr, zumindest in Spanien. Und es ist mittlerweile längst illegal, Kinder auszusetzen, ohne sich zu erkennen zu geben, obwohl von Zeit zu Zeit immer noch eins im Mülleimer auftaucht. Aber die Dinge haben sich verändert, jetzt ist es nicht mal mehr gestattet, Findelkinder für medizinische Experimente zu benutzen.
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