Im Namen des Sehers -: Soul Seeker 3 - Roman (German Edition)
getäuscht habe?
»Was siehst du?«, bedrängt mich Paloma, wobei ihr Tonfall keinen Zweifel daran lässt, dass sie mir auf die Schliche gekommen ist und genau weiß, dass ich nicht ganz aufrichtig bin.
»Ja, sag uns, was du siehst«, wiederholt Lita. »Halt dich meinetwegen nicht zurück.«
Ich hole tief Luft und räuspere mich. »Die Prophezeiung hat sich gewandelt.«
»Inwiefern?« Paloma rückt ihren Stuhl näher zu mir her.
»Du hattest recht in Bezug auf Cade. Er ist derjenige, der den Himmel mit Feuer erfüllt hat, um die Prophezeiung zu erzwingen. Er war ungeduldig. War überzeugt, dass er, wenn er die Sache in Gang setzt, den Tag schneller herbeiholen könne, an dem er sich zur Herrschaft aufschwingen kann. Aber manches lässt sich nicht erzwingen, und jetzt ist die Prophezeiung … im Standby-Modus, um es mal so auszudrücken.«
Palomas Energie wird schwächer, während sie auf ihrem Stuhl nach unten rutscht. »Ich fürchte, du hast recht«, sagt sie. »An dem Abend, als Daire verschwunden ist, hat Chay direkt neben mir gestanden, und wir haben zugesehen, wie die Worte von den Seiten geflogen sind. Ich habe es bis jetzt nicht erwähnt, weil ich nicht wusste, was ich davon halten soll. Aber ich bin sicher, dass deine Einschätzung zutrifft. Cade ist unreif, ungeduldig, und deshalb hat er die Zeichen vor ihrer Zeit herbeigezwungen. Und obwohl ich das Buch tagtäglich überprüfe, bleibt die Stelle, wo die Prophezeiung gestanden hat, hartnäckig leer.«
»Haben Sie heute schon mal nachgesehen?«, frage ich vorsichtig, da ich nicht weiß, ob ich dieses unglaubliche Gefühl, das mich allmählich beschleicht, aussprechen soll.
»Heute Morgen. Es ist das Erste, was ich jeden Tag tue.«
»Schauen Sie noch mal nach«, bitte ich. »Sie wissen schon, nur um sicherzugehen.« Ich ringe darum, in lockerem Tonfall zu sprechen, als hoffte ich nur darauf, dass sie mir den Gefallen tut. Ich habe Angst, zu viel zu verraten und einen Samen der Hoffnung zu pflanzen, obwohl ich auch völlig falschliegen könnte.
Ich halte den Atem an, als sie das Buch zu sich hinzieht. Der Luftzug weht mir über die Wangen, als der Buchdeckel mit einem dumpfen Schlag auf die Tischplatte fällt und die abgegriffenen Pergamentseiten eine nach der anderen umgeblättert werden. Ein ebensolcher Luftzug entfährt meinen Lippen, als Paloma und Lita im gleichen Moment abrupt einatmen und mir allein schon das Geräusch bestätigt, was ich gespürt habe. Auf diesen vergilbten Seiten schimmert jetzt die Verheißung eines neuen Texts, wo zuvor noch gähnende Leere geherrscht hatte.
»Was steht da?«, fragt Lita.
»Ich weiß es nicht.« Palomas Stimme klingt unsicher, aber deutlich froher als seit Tagen. »Die Symbole sind verschwommen, undeutlich …«
Ich will mich gerade vorbeugen und versuchen, ob ich vielleicht intuitiv etwas erfassen kann, als ich plötzlich einen anderen Windhauch verspüre. Eine winzige Veränderung der Atmosphäre, die völlig unbemerkt hätte vorüberziehen können, wäre sie nicht von leuchtenden Farbblitzen, einem Aufwallen von Wärme und himmlischem Gesang begleitet gewesen.
Es ist ein Refrain, den ich schon einmal gehört habe.
Das Tempo ist munter und wird schneller und schwillt schließlich zu einem so überwältigenden Crescendo an, dass ich mich nicht mehr länger beherrschen kann. Ich springe auf und schreie: »Jemand muss das Tor aufmachen.« Ich warte, bis ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit besitze, ehe ich weiterspreche: »Jemand muss das Tor aufmachen und Daire hereinlassen – sie ist wieder da!«
Zehn
Daire
I ch bleibe in der Tür stehen und schließe die Augen. Genieße das Aroma der im Kamin brennenden Mesquite-Scheite und des Ingwertees in der Luft. Dazu der süße Duft von Kardamom-Cupcakes, Lavendelöl, Vanilleparfüm und Pfefferminzseife – der Geruch nach Zuhause, Familie und Freunden.
»Nieta!« Paloma drückt mich so fest an ihre Brust, dass ich ihre Knochen auf eine Weise aus ihren Schultern hervortreten spüre, die mir fremd ist. » Nieta , was ist geschehen? Wo warst du?« Sie weicht zurück, fährt mir mit dem Handrücken über die Stirn und umfasst meine Wangen fest mit beiden Händen. Dazu blickt sie mich, ohne zu blinzeln, aus großen Augen an, als könnte sie es nicht ertragen, mich auch nur eine Sekunde außer Sichtweite zu lassen.
»Das ist eine lange Geschichte«, sage ich und möchte das Thema am liebsten damit abtun, um auf Wichtigeres zu sprechen zu kommen – wie zum
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