Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
bislang nicht beschwert hatte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er hier zu finden hoffte. Bereits zweimal hatte er die Stelle abgesucht. Irgendetwas musste es geben, was Praytor und Henri mit ihrem Mörder verband.
John räusperte sich. »Ich hab heute Morgen im Café einiges aufgeschnappt. Die Leute geben Ihnen die Schuld an allem. Sie glauben, der Fluch des loup-garou lastet auf Ihnen. Adele Hebert soll Sie verhext haben, damit Sie sie freilassen.«
Raymond überlegte, ob er überhaupt darauf eingehen sollte, aber da sprudelte es bereits aus ihm heraus. John hatte so etwas an sich: Er konnte zuhören, er schaffte Vertrauen. »Adele ist voller Widersprüche. Mir ist nach wie vor schleierhaft, wer sie überhaupt ist. Von ihrer Schwester wird sie als Hure beschimpft, ein wegen Mordes Verurteilter sagt mir, sie sei eine Heilige.«
»Und was ist Ihre Meinung?«, fragte John.
Raymond musste an Armand Dugas’ Worte denken – wer Adele verleumdete, musste dafür einen guten Grund und einiges dabei zu gewinnen haben. »Ich glaube eher dem Verurteilten. Er hatte nichts zu …« Er hielt inne. Bernadette hatte einiges unternommen, um Adele im schlimmsten Licht erscheinen zu lassen. Wegen Eifersüchteleien aus der Kindheit? Raymond bremste ab. Was gab es für Bernadette zu gewinnen? Das war die Frage, auf die er eine Antwort finden sollte.
»Stimmt etwas nicht?« John lehnte sich gegen die Beifahrertür.
»Nein.« Raymond ließ den Blick über den Waldrand schweifen. »Seltsam, Bernadette Matthews scheint es darauf anzulegen, dass ihre Schwester wegen Mordes angeklagt wird. Sie und Praytor haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Adele für den Mord an Henri verantwortlich zu machen. Ich frage mich nur, warum.«
»Ja, das ist seltsam.«
Raymond schaltete die Heizung des Wagens aus. Die warme Luft störte ihn. »Bernadette hat, soweit ich sagen kann, dabei doch nichts zu gewinnen. Weder Adele noch Bernadette ziehen aus Henris Tod irgendeinen Vorteil. Nur Marguerite, sie profitiert finanziell. Praytor Bless, hätte ich gesagt, würde ebenfalls profitieren, aber der ist jetzt tot. Ich war schon kurz davor, Praytor hinter der ganzen Sache zu vermuten.«
Das Sonnenlicht fiel auf die Vordersitze. John veränderte erneut die Position, um nicht geblendet zu werden. »Henri und Praytor werden vom loup-garou getötet, und die Stadt will es einer halbverhungerten Frau im Fieberwahn in die Schuhe schieben. Es ist ja für uns alle umso vieles einfacher, wenn sich dort draußen das Böse herumtreibt, dann müssen wir uns keine Gedanken darüber machen, wie sehr wir selbst zu Gewalttätigkeit, zu Mord fähig sind. Und Schlimmerem.«
Raymond packte das Lenkrad fester. Wieder huschten Licht- und Schattenkaskaden über den Wagen. Der Geruch von Kiefern, so rein und stechend, lag in der Luft. In der Ferne hörte Raymond den Ruf eines Falken. »Was haben Sie da gesagt, John?«
John beugte sich vor, überrascht von Raymonds Tonfall. »Der Glaube, dass jeder von uns das Primitive, das Wilde in sich hat. Diese Dualität. Der Wolf in uns. Das ist einer der Gründe, warum ich mein Buch schreiben will.«
Der Schweiß stand Raymond auf der Oberlippe, obwohl die frische Luft durch das offene Fenster blies. »Erzählen Sie mir von Ihrem Buch.«
»Es verbindet Psychologie und Anthropologie. Das menschliche Tier erschafft sich Mythen und Legenden, um die Dualität seines Wesens erklären zu können. Wir sind sowohl domestizierte wie auch primitive Wesen. Ein ewiger Kampf. In religiösen Begriffen würde man vom Kampf des Guten gegen das Böse sprechen. Die Werwolf-Legenden sind nur ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn die primitive Seite gewinnt. Wir erkennen uns selbst im Wolf, und das jagt uns Angst ein.«
Raymond sah wieder das Traumbild von Adele im blutigen Mondlichtdämmer vor sich. Sie war verlockend, erregend. Und primitiv. Er fasste in seine Jackentasche und wollte die Zigarettenpackung herausholen. Seine Finger fanden den Brotklumpen, den der Priester ihm gegeben hatte, sowie das violette Tuch mit den darin eingewickelten Gräsern, das er sich in die Tasche gestopft hatte, als er aus Docs Haus geflüchtet war.
Er griff sich die Packung und die Streichhölzer, zündete sich eine Zigarette an und hielt John die Packung hin. Er versuchte sich zu zügeln, wollte sich alles Punkt für Punkt durch den Kopf gehen lassen. Unweigerlich musste er an Antoine denken und wie der Tod seines Bruders ihn selbst verändert hatte. Er
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