Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Hunde machen mir Sorgen. Die können einen Menschen zerfleischen.«
»Und Adele?«
Chula streichelte Sarahs Haar. »Sie hätten sie sehen sollen, Florence. Sie war so schwach, sie konnte noch nicht mal den Kopf heben. Wie Sie schon sagten, es ergibt alles keinen Sinn. Wie soll eine im Sterben liegende Frau ein kleines Kind entführen und sich dann auch noch um es kümmern? Woher nimmt sie die Kraft dazu? Und dann Praytor Bless ermorden.« Sie schüttelte den Kopf.
»Man sagt, Praytor hätte es am Herzen gehabt, aber das stimmt nicht. Irgendwie hat seine Mama es geschafft, dass er nicht eingezogen wurde.« Ein Schauer kroch Florence über die Arme.
»Das Einzige, was mit Praytors Herzen nicht gestimmt hat, war seine Habsucht.«
Es überraschte Florence, dass Chula nun doch freimütig ihre Meinung äußerte. »Er hat immer mit irgendwelchen Leuten gemeinsame Sache gemacht. Er hatte in vielen Geschäften seine Finger drin.«
»Egal, wie viel er hatte, er wollte immer mehr«, sagte Chula. »Hören Sie, John muss heute nach Baton Rouge, aber er wird zum Wochenende wieder hier sein. Wie wär’s, wenn Sie beide am Samstagabend zu uns zum Essen kommen? Ich lade Raymond auch noch ein.«
Florence sah sie an, als fühlte sie sich veräppelt. Eine Einladung ins Haus der Bakers war kein geselliges Beisammensein, sondern eine politische Aussage. Chulas Großzügigkeit würde sie in der Stadt teuer zu stehen kommen. »Ist vielleicht keine so gute Idee, wenn ich komme«, sagte Florence. »Viele meinen, ich sollte mich nicht …«
» Viele haben auch nichts dagegen gehabt, dass Henri und Praytor durch die Stadt laufen, ihre Geschäfte abziehen und überall die Leute einschüchtern. Wissen Sie was, diese Vielen können mir den Hintern küssen.«
Florence fiel in Chulas breites Lächeln mit ein. »Das ist eine kühne Aussage, aber Sie werden es für den Rest Ihres Lebens büßen.«
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich hier bleibe.«
Wieder lief Florence ein kalter Schauer über den Rücken. Erst heute Morgen hatte sie beschlossen, New Iberia zu verlassen. »Wohin wollen Sie?«
»Das weiß ich nicht.« Chula küsste Sarah auf den Kopf. »Irgendwohin, wo der Kleinen nichts passiert.«
Nun wurde Florence klar, dass Chula nicht die Absicht hatte, Marguerite das Kind zurückzugeben. Sie nickte. »Sie haben Schulbildung. Sie können überallhin.«
Chula nickte. »Es wird meiner Mutter das Herz brechen, aber ich glaube, sie weiß es sowieso bereits. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben. Aber die Gespräche mit John haben mir klargemacht, dass ich eigentlich nicht hierhergehöre. Ich bin hier aufgewachsen, ich lebe hier. Aber ich gehöre nicht hierher.«
Mehr musste Chula nicht erklären. Florence verstand es. Manchmal wurden die Wurzeln eines Menschen durch ein Unglück so tiefgreifend zerstört, dass er nie wieder woanders Fuß fassen konnte.
»Kommen Sie zum Essen«, drängte Chula.
»Gut.« Noch immer zögerte Florence. »Aber machen Sie Raymond unmissverständlich klar, dass Sie mich auch eingeladen haben.«
»Ich werde es ihm sagen.« Chula hob Sarah vom Schalter und stellte sie auf den Boden. »Jetzt muss ich mich aber an die Arbeit machen. Es gibt Post zu sortieren.« Sie wollte sich mit dem Kind umdrehen, als die Klingel über dem Eingang schellte.
Florence trat vom Schalter zurück und drehte sich um. Im nächsten Moment schnappte sie nach Luft. Der Geist von Adele Hebert betrat das Postamt. Es dauerte einige Sekunden, bis sie Bernadette Matthews erkannte, Adeles Schwester. Trotzdem wich sie in ihrem Schrecken unwillkürlich zwei Schritte von der Frau zurück.
Die drei sahen sich an, es herrschte peinliches Schweigen, das erst durch das plätschernde Tropfen unterbrochen wurde, als Sarah Bastion sich in die Hose machte.
27
as zwischen den Bäumen aufblitzende Sonnenlicht, das gleich darauf wieder hinter dem dichten Laub verschwand, blendete Raymond. Die Welt der Schatten und die Welt des Lichts. Dazwischen war er gefangen gewesen, bevor ihn die Ereignisse gezwungen hatten, sich zur anderen Seite durchzuschlagen.
John saß auf dem Beifahrersitz, ruhig und nachdenklich. Raymond wusste dessen Geduld und Gefasstheit zu schätzen.
»Worüber wollen Sie sich mit mir unterhalten?«, fragte Raymond schließlich. Sie waren fast an der Stelle, an der Praytors Leiche gefunden worden war. Raymond verringerte die Geschwindigkeit, obwohl sich John über das halsbrecherische Tempo
Weitere Kostenlose Bücher