Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
selbst, Jolene. Sie können in einer so schwierigen Situation nicht erwarten, dass sie immer alle Umgangsformen einhält. Ihr Mann wurde, um Gottes willen, auf offener Straße zerfleischt.«
»Wo um alles in der Welt hat sie bloß gesteckt? Nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken. Meinen Sie, es geht ihr gut? Man sagt, Henri muss sich mit dem Teufel getroffen haben, sonst hätte er sich bei so einem Unwetter nie so weit von seinem Haus entfernt.« Jolenes Augen funkelten vor Angst.
Der Priester blinzelte. Selbst auf ihn färbte das unselige Gerede über Werwölfe allmählich ab. »Wahrscheinlich war er nur auf einem Verdauungsspaziergang. Wohlhabende Leute …« Er beendete den Satz nicht, der sich nur in verschrobenen Vorstellungen verloren hätte.
»Manche sagen, er habe für seinen Reichtum seine Seele verkauft.« Jolene war nun stehen geblieben und hatte sich vor ihm aufgebaut. »Was halten Sie davon, Vater Michael? Glauben Sie, der Herr der Finsternis geht in der Nacht um und schlägt mit den Hufen Funken?«
Seit Rosa waren Glaubensfragen für ihn sehr schwierig geworden. Den Teufel gab es wirklich, und die Grenze, die Dämonen von Engeln scheidet, war in seiner Vorstellung klar definiert und wurde von den Gesetzen der Bibel bestimmt. Er hatte sich entschieden, in den Orden der Dominikaner einzutreten, weil er ein Soldat Gottes werden wollte, kein Lehrer oder Schreiberling oder Mönch, der sein Leben mit Gebeten und der Fürsorge für Tiere zubrachte. Er wollte Krieg führen gegen den Teufel und seine Dämonen, gegen alle Übel, die die Menschheit heimsuchten.
»Wenn sich der Teufel mit seinem gegabelten Schwanz und Pferdefuß nur blicken lassen würde, dann wäre meine Arbeit um einiges einfacher.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Er ist ein Meister der Verstellung, Jolene, aber Sie haben nichts zu befürchten. Weder vom Teufel noch vom loup-garou .«
»Ich hab gehört, Henri Bastion war ein verdorbener Mensch …«
»Jolene, sprechen wir nicht schlecht von den Toten. Das ist nicht gut.« Er kam sich wie ein Heuchler vor. Henri Bastion hatte mit Frau und Kindern jeden Sonntag in der ersten Reihe der Kirche gesessen, nie aber hatte der Priester gesehen, dass Henri sich vom Herrn hätte leiten lassen. Die Sträflinge auf seinen Feldern zeugten davon.
Jolene hatte noch mehr auf dem Herzen, doch dann schritt sie wieder nur auf und ab. Ihr Zorn ließ allmählich nach, und so fuhr er mit leiser Stimme fort: »Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe im vergangenen Jahr danken. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Vor allem mit der armen Rosa.«
Jolene ging zum Sessel vor seinem Schreibtisch und stützte die Hände auf die Lehne. »War sie wirklich eine Stigmatisierte, Vater Michael?«
Ihr Verlangen zu glauben war ihr so deutlich anzusehen. Hier in dieser Gegend, in der Religion vor allem aus abergläubischen Vorstellungen bestand, wollten die Menschen Zeichen. Sie brauchten Gott, damit er ihnen zu erkennen gab, dass er sie in den mückenverseuchten Sümpfen nicht vergessen hatte. Im Lauf des vergangenen Jahres hatte die Natur sie vielfach heimgesucht, von der ersten Insektenplage im Frühjahr und der Malaria im Sommer bis zur letzten Fieberepidemie, an der mindestens vierzig Gemeindemitglieder gestorben waren. Zudem blieben viele der jungen Männer auf den Schlachtfeldern in Frankreich und Deutschland. Tagtäglich brach neues Leid über die Gemeinde herein.
»Ich hab Rosas Hände bluten sehen. An ihren Füßen zeigten sich die ersten Anzeichen der Nägel.«
»Und an der Seite? Hat sie dort auch geblutet?«
Er schüttelte den Kopf. »Vorwiegend aus den Händen. Die Wundmale in ihren Füßen waren noch neu.« Er schloss die Augen, um die Erinnerungen zu verdrängen. Die Wunden hatten ihm Angst eingejagt, und in seinem Entsetzen hatte er es nicht zu verhindern gewusst, dass Zweifel ihn überkamen. Und in seinen Zweifeln hatte er Rosa ganz und gar im Stich gelassen. Er nahm sich vor, Jolene hier nicht im Stich zu lassen.
»Sie haben wegen Rosa wirklich an den Vatikan geschrieben?«
»Ja.«
»Wurde überlegt, sie seligzusprechen?«
»Ja.« Das war nicht gelogen. Die Kardinäle in Rom hatten Rosa Heberts Fall eingehend untersucht. Was er Jolene verschwieg, war, dass der Vatikan Rosa misstrauisch gegenüberstand. Seine Bitte, sie offiziell als Stigmatisierte anzuerkennen, war auf entschiedene Ablehnung gestoßen. Als er begriff, dass der Vatikan nicht bereit war, eine gewöhnliche amerikanische
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