Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
sie in Wirklichkeit bestellt war. Wenn ihr die Eltern die Rückkehr nach Hause verweigert hatten, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als bei Henri auszuharren. Marguerite war nicht darauf vorbereitet, als unabhängige Frau zu überleben, und soweit er es einzuschätzen wusste, hatte sie auch keine Freunde. Seitdem er als Deputy arbeitete, hatte er sie in der Stadt immer nur sonntagmorgens beim Kirchgang gesehen. Dabei war Henri ihr nie von der Seite gewichen und hatte sie vor jedem Kontakt zu anderen abgeschirmt. Vielleicht war sie ebenfalls eine Gefangene.
»Der Doc untersucht den Leichnam«, sagte er leise. »Es tut mir leid, Mrs. Bastion. Ich weiß, das alles ist nicht leicht für Sie.«
»Ich möchte meinen Mann zur letzten Ruhe betten. Es ist unverzeihlich, dass Sie ihn so lange behalten und noch weiter schänden.« Sie hielt sich kerzengerade.
»Wir können von dem Leichnam eine Menge erfahren.« Er sparte es sich, ihr von Schnittwunden oder Bissspuren, Erdrosselung und Ausweidung zu erzählen. »Der Doc arbeitet so schnell er kann, aber um ehrlich zu sein, er hatte bislang kaum Veranlassung, Autopsien durchzuführen.«
»Warum ist die Autopsie überhaupt notwendig? Hat Adele nicht gestanden, Henri umgebracht zu haben?«
Er wollte nicht über die Gründe sprechen, warum Adele unschuldig sein könnte. »Im Grunde ist Adele zu krank, um überhaupt ein Geständnis ablegen zu können. Hätten Sie etwas dagegen, mir ein paar Fragen zu beantworten?« Er setzte seinen Fuß auf die Treppe. Das Kind an Marguerites Seite begann zu weinen.
»Geh nach drinnen, Sarah.«
Lautlos weinend klammerte sich das Kind an sie.
Marguerite strich sich eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. »Sarah, bitte geh rein. Ich kann mich nicht unterhalten, wenn du an meinem Kleid ziehst.«
Raymond ging in die Hocke, wollte mit dem Kind reden und es beruhigen. Doch die Augen des kleinen Mädchens weiteten sich, es riss sich von seiner Mutter los und rannte ins Haus. Hinter ihr knallte die Fliegentür zu.
»Stellen Sie bitte Ihre Fragen, und dann gehen Sie«, sagte Marguerite. »Meine Kinder sind durcheinander und brauchen mich.«
Raymond deutete auf zwei mit Rindsleder bezogene Sessel auf der Veranda. »Was dagegen, wenn wir uns setzen?«
»Nein. Ich möchte Ihnen ja helfen.«
Raymond zog den Notizblock hervor, den er immer bei sich hatte. »Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«
»Als er zur Tür hinaus ist. Er sagte, er würde in einer Stunde zurück sein. Er setzte seinen Hut auf und ging.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Er hatte die Angewohnheit, jeden Abend einen Spaziergang zu machen?«
Sie sah ihn verwirrt an. »Er trank auch jeden Tag zum Frühstück Kaffee und aß Brötchen. Warum interessieren Sie sich für seine Angewohnheiten, Deputy?«
»Gewisse Muster im Leben eines Menschen sind manchmal sehr aufschlussreich. Um herauszufinden, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, Henri umzubringen, muss ich seine Routineabläufe kennen. Nahm er immer den gleichen Weg?«
»Ich habe Henri nicht danach gefragt, weder was seine Spaziergänge noch den Weg betrifft, den er dabei einschlug. Offensichtlich waren Sie nie verheiratet, Deputy Thibodeaux. Es steht einer Frau nicht zu, solche Fragen zu stellen.«
»Waren Sie denn nicht neugierig?«
Sie atmete tief durch. »Wenn Henri zu seinen Gängen aufbrach, hatte ich mich den ganzen Tag um die Kinder gekümmert, die Mahlzeiten gekocht, das Haus geputzt, gewaschen und gebügelt. Ich war froh, wenn ich eine Stunde Ruhe hatte.«
»Haben Sie keine Hilfe?«
Sie nickte. »Doch. Adele und ihre Schwester Bernadette haben eine Weile hier gearbeitet. Glauben Sie mir, es gibt genügend Arbeit für ein Dutzend Frauen.«
Er ließ vorerst von dem Thema Adele ab. »Welchen Geschäften ging Ihr Mann nach?« Er stellte die Frage ganz beiläufig, beobachtete dabei aber aufmerksam Marguerite. Wenn Adele Henri nicht umgebracht hatte, dann musste es jemand anderes gewesen sein – und dessen Motiv war der Grund für seine Frage.
»Er baute Zuckerrohr an, wie Sie deutlich sehen können. Henri war ein ausgezeichneter Farmer.«
»Sonst gab es keine weiteren Geschäftsinteressen?«
Marguerite runzelte die Stirn. »Er war Pflanzer, Mr. Thibodeaux. Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?«
»Veedal Lawrence ist Ihr Aufseher?«
»Ja, er war bereits hier, bevor ich Henri geheiratet habe.« Sie blickte zu den Feldern. »Er
Weitere Kostenlose Bücher