Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
zu machen und konzentrierte sich auf die Eindrücke, die sie wahrnahm. Adeles Muskeln waren angespannt und widersprachen dem äußeren Eindruck einer Schlafenden. Sie spürte eine innere Spannung in Adeles Körper, wie sie es noch nie erlebt hatte.
    »Sie kämpft gegen sich selbst«, sprach sie unwillkürlich laut aus.
    »Was noch?«
    Chula ließ die Hände zu Adeles Brustkorb wandern. Das Pochen ihres Herzens erinnerte sie an einen eingesperrten Vogel, der verzweifelt mit den Flügeln schlug und ausbrechen wollte. Panik, Angst, der alles verzehrende Drang, frei zu sein. »Sie hat Angst. Wenn sie so weitermacht, wird ihre Angst sie umbringen. Ihr Herz wird bersten.«
    »Deshalb blutet sie aus der Nase. Der Druck ihres schlagenden Herzens.«
    Chula trat zurück. »Das Fieber hat keine äußere Ursache, oder?«
    Madame nahm sie am Arm und führte sie in die Küche. Sie schloss die Tür, ging zum Fenster und öffnete es, um frische Luft hereinzulassen. »Ich mach Tee.«
    Chula nahm am Tisch Platz, während Madame den Kessel aufsetzte und die Teekanne vorbereitete. Das Zimmer war aquamarinblau gestrichen, eine Farbe, die Madame zufolge den Geist beruhigte. Chula liebte die Farbe und die hellen Gläser mit den eingemachten Tomaten, Bohnen, Kartoffeln, Jamswurzeln und Obstsorten, die in den Regalen standen. Oft erhielt Madame als Bezahlung für ihre Dienste Fleisch oder Gemüse. Was sie nicht gleich essen konnte, machte sie ein und schaffte sich damit Vorräte an, die ihr über den Winter oder über eine lange Überschwemmung halfen.
    In den Fenstern waren Kräuter und verschiedene Gräser zum Trocknen aufgehängt. Aus diesen einheimischen Pflanzen braute sie ihre Medizin zusammen.
    »Hast du Adele etwas gegeben?«
    »Sie behält nichts bei sich.«
    »Nicht mal Wasser?«
    Madame schüttelte den Kopf, während sie Tee in die Kanne gab. »Sie tut so, als könnte sie nicht schlucken, aber ich hab mir ihren Mund und ihren Hals angesehen. Alles in Ordnung. Ständig läuft ihr der Speichel raus.«
    Chula musste an die Krankheit denken, die durch den Biss von infizierten Tieren übertragen wurde. »Könnte es Tollwut sein?«
    »Daran hab ich auch gedacht, aber das ist es nicht.«
    Ein schrecklicher Gedanke kam ihr, einer, der die von Katastrophen heimgesuchte Gemeinde völlig zerstören würde. »Kinderlähmung?«
    »Nein, nein.« Madame goss heißes Wasser über den Tee. »Es ist ein Fieber im Gehirn. Es kommt und geht. Raymond hat gesagt, sie ist heute Morgen ansprechbar gewesen.«
    Chula nahm die Tasse entgegen, die Madame ihr reichte. »Könnte es sein, dass ihr jemand etwas gegeben hat – etwas, was das Fieber hervorruft?«
    Madame lächelte stolz. »Ist mir auch schon durch den Kopf gegangen.«
    Chula runzelte die Stirn. »Wäre es möglich, dass sich Adele wegen etwas, das sie getan hat, in ihr Fieber flüchtet? Vielleicht ist ihre Krankheit von geistiger Natur.«
    Madame nahm Chula gegenüber Platz. »Du bist begabt, Chula Baker. Du siehst Dinge, die andere nicht finden. Mit der Zeit wirst du die Wahrheit aufspüren.«
    »Adele hat nicht mehr viel Zeit.« Davon war sie überzeugt. Adele war vom Tod gezeichnet. »Wenn sie das Fieber nicht überwindet, wird sie sterben, bevor ihr jemand helfen kann.«
    »Glaubst du, sie hat für sich das Recht, den Tod zu wählen?« Madame berührte mit ihrer ringlosen Hand Chula am Arm.
    »Vater Finley sagt, wir müssen gemäß dem Plan leben, den Gott für uns hat. Selbstmord ist eine Todsünde.« Ihre Worte kamen langsam, sie musste an Rosa denken. »Ich bin mir da nicht so sicher. Es gibt andere Fragen. Die Männer, die in den Krieg ziehen, wissen, dass sie sterben werden. Ist das auch Selbstmord? Im gegnerischen Feuer einen Hügel erstürmen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie werden Helden genannt und mit Orden geschmückt. Die arme Rosa Hebert wurde als Sünderin bezeichnet und exkommuniziert.«
    Madame lächelte. »Die Gesetze der Kirche, die die Gesetze von Menschen sind, folgen oft einem bestimmten Zweck, cher . Nicht Gottes Zwecken, sondern dem der Menschen. Die Frage, die ich dir gestellt habe, kannst nur du beantworten. Es muss aus deinem Herzen kommen, nicht vom Verstand. Logik und Gesetze helfen hier nicht weiter.«
    »Wenn ich mich in Rosas Lage versetze, kann ich es verstehen. Ich hab ihre Hände gesehen, die schrecklichen Wundmale, die jeden Freitag aufgebrochen sind. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich vor jedem Freitag gefürchtet haben muss, wenn ihr Fleisch zu

Weitere Kostenlose Bücher