Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
wollte nicht über seine Wunden reden. »Der Schmerz erinnert mich daran, wer ich mal gewesen bin und wie sehr ich mich verändert habe. Hätte ich keine Schmerzen, würde ich es vielleicht vergessen.« Er stand auf und ging ans Fenster, um ihrer Berührung zu entkommen. »Ich werde morgen für Adele ein paar Sachen zum Anziehen bringen.«
»Ich kann ihr nicht helfen, Raymond. Ist Doc Fletcher schon zurück?«
»Ja, aber er kann auch nicht mehr tun als du.« Der Doc war ein guter Mensch, aber er würde sie ins staatliche Irrenhaus einliefern lassen. Adele würde ohne Gerichtsverfahren weggesperrt werden, und Joe Como würde der Sache daraufhin nicht weiter nachgehen. »Hat Praytor Adele gesehen?«
Madame kam um den Tisch herum und stellte sich ihm wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Er ist nicht reingekommen. Er weiß nicht, dass sie hier ist.«
»Gut.« Praytor war ein Muttersöhnchen und Wichtigtuer. Keiner, vor dem man Angst haben musste, aber jemand, der für Probleme sorgte, wenn er nur die leiseste Chance dazu sah. »Ich will nicht, dass man in der Stadt weiß, dass sie hier ist. Könnte für dich unangenehm werden.«
Madame reichte ihm eine Tasse mit dampfendem Tee, ein schwarzes Gebräu, und Raymond musste an seine Urgroßmutter denken, eine Algonquin, die Weiße nicht ausstehen konnte und meinte, sie seien ein Fluch für das Land und würden nur Tod über alle Lebewesen bringen.
Sie hatte Raymond den Ruf des Falken beigebracht und gesagt, damit könnte er Hilfe holen, wenn er in Schwierigkeiten sei. Raymond hatte den Ruf dann Antoine gelehrt, es war das Signal zwischen ihnen, wenn sie gemeinsam auf Jagd gingen.
Nanna, wie er die alte Frau genannt hatte, behauptete, sie könnte sich, wann immer sie wollte, in eine Krähe verwandeln. Tatsächlich hatte sie scharfe schwarze Augen. Sie ruckte mit dem Kopf, wenn sie zuhörte, genau wie ein Vogel, und sie konnte aus dem Kräutersatz, den sie für ihre medizinischen Tees verwendete, die Zukunft lesen. Einmal hatte sie einen Tee getrunken, der so schwarz war, dass man glaubte, man würde in ein Loch blicken. Was sie gesehen hatte, hatte ihr so schreckliche Angst eingejagt, dass sie nur sagte, Raymond würde an einer großen Schlacht teilnehmen und großes Leid erdulden. Sie hatte nicht gelogen. Er nippte am Tee und vermied es, in die Tasse zu sehen.
»Hat Adele jemals erwähnt, wer der Vater ihrer Kinder war?«, fragte er.
»Nein.« Madame stand am Ausguss und trank ihren Tee. »Sie ist gekommen, weil sie unter Morgenübelkeit litt. Sie ist den ganzen Weg hierher zu Fuß gegangen. Sie hat nur gesagt, dass sie schwanger ist und was bräuchte, damit sie weiterhin arbeiten kann.«
»Hast du sie nach dem Vater gefragt?«
Madame nickte. »Ich hab ihr gesagt, er soll ihr helfen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Sie meinte, das würde er nicht tun. Er würde für sie oder für das Kind keine Rolle spielen. Sie würde das Kind so sehr lieben, dass es für Vater und Mutter reicht. Als die Zwillinge geboren wurden, war sie außer sich. Sie hat sie ganz für sich allein gehabt. Sie ist eine starke Frau.«
Raymond dachte darüber nach, während er den heißen, bitteren Tee trank. »Sie wollte nicht, dass der Vater etwas mit dem Kind zu tun hatte – heißt das, dass sie ihn nicht geliebt hat?«
»Adele scheint in ihrem Leben niemals geliebt worden zu sein, von niemandem. Außer von Rosa und ihren beiden Kindern. Der Mann, der die Kinder gezeugt hat, ist nie ein Teil ihres Lebens gewesen. Männer betrügen manchmal die Frauen, von denen sie geliebt werden.«
Unter Schuldgefühlen zu leiden war eine körperliche Empfindung. Raymond dachte an das junge Mädchen, das auf seine Rückkehr aus dem Krieg gewartet hatte, in der Hoffnung, von ihm den Ring an den Finger gesteckt zu bekommen. Er konnte ihr nicht erklären, dass der Mann, den sie geliebt hatte, tot war. Was von den Schlachtfeldern zurückgekehrt war, war nur noch eine leere Hülle, jemand, der keinerlei Liebe verdiente.
»Raymond, geht es dir nicht gut?« Madame nahm ihm die Teetasse aus der zitternden Hand.
»Darf ich mich kurz zu Adele setzen?«
»Rede mit ihr. Versuch an sie ranzukommen, cher . Sie braucht jemanden, der sie zurückholt. Sie hat ihre Kinder verloren, aber sie ist jung. Nach allem, was ich sagen kann, wird sie wieder Kinder haben können.«
Raymond ging aus der Küche und zog sich einen Stuhl an das Sofa im stickig-warmen vorderen Raum. Ein dünner Schweißfilm lag auf Adeles
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