Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Schultern der Frauen.
Rauch stieg aus Madame Louiselles Kamin. Chula spürte ihre Aufregung. Madame hatte begonnen, sie in die Kunst der traiteuse , der Heilerin, einzuweisen, und bei jedem Treffen mit der älteren Frau lernte sie etwas Neues. Chula hatte bei sich die angeborene Fähigkeit entdeckt, Krankheiten zu erspüren. Zum einen lag das an ihrer Bereitschaft, anderen zuhören, wirklich heraushören zu können, was andere einem insgeheim sagen wollten. Zudem glaubte sie aber auch, dass diese Fähigkeit eine Gabe war, von der Madame sie erst hatte überzeugen müssen. Jetzt half sie ihr dabei, dieses Talent für sich anzunehmen und weiter zu verfeinern.
Sie griff sich vom Beifahrersitz den Brief aus Kalifornien und eilte die Stufen zur Hütte hinauf. Sie wollte bereits anklopfen, als die Tür aufging. Madame legte einen Finger an die Lippen und zog Chula hinein.
Drinnen war es viel zu warm, erstickend heiß für den wunderbaren Oktoberabend. Sie wollte schon etwas sagen, als sie im Schein des flackernden Kaminfeuers die junge Frau auf dem Sofa liegen sah. Überrascht erkannte sie, dass es sich um Adele handelte. Ihr waren Gerüchte zu Ohren gekommen. Adele sei durch Zauberkräfte aus dem Gefängnis verschwunden – und Raymond würde sie aus irgendeinem unbekannten Grund schützen. Chula wusste, warum. Trotz allem, was Raymond verloren hatte, war er nach wie vor jemand, der sich für die Hilflosen einsetzte.
Unmittelbar nach der High School hatte Chula für kurze Zeit geglaubt, sie liebe Raymond. Hatte es so sehr geglaubt, dass sie der zwischen ihnen entflammten Leidenschaft nachgegeben hatte. Ein Lächeln berührte ihre Lippen. Das waren die schönen Erinnerungen, an denen sie festhalten konnte, wenn die Jahreszeiten vorüberzogen und wieder kein Mann auftauchte, der ihr Interesse weckte. Die Verbindung zwischen ihr und Raymond war aber letztendlich die Verbindung zweier Menschen gewesen, die Ungerechtigkeiten nicht ertragen konnten. Nachdem sich die Leidenschaft abgekühlt hatte, war ihnen eine Freundschaft geblieben, die sie so stark miteinander verband wie die Liebe. Zumindest bis zum Ausbruch des Krieges. Als Raymond zurückkehrte, war er nur noch die Hülle des Menschen, den sie einmal gekannt hatte.
»Chula?«
Einen Augenblick lang hatte Chula ganz vergessen, wo sie sich befand und wer schweißüberströmt vor ihr im Koma lag. »Madame, was geht hier vor sich?«
»Ein ungewöhnlicher Fall, Chula. Wie ich ihn noch nie gesehen habe.«
Chula trat näher an die kranke Frau. »Wird sie überleben?«
»Ich hab das Fieber bislang nicht bezwingen können, aber es hat nachgelassen. Ich hab Feuer gemacht, um ihre Kälteschauer zu lindern.« Sie sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
»Fieber?« Bilder der jüngsten Epidemie traten ihr vor Augen. Beim Postaustragen hatte Chula eine Beerdigung nach der anderen gesehen, Särge, die auf Befehl des Arztes zugenagelt wurden, damit die Krankheit sich nicht weiter ausbreitete. Einige sagten, sie käme von den Mücken, andere, es sei eine Krankheit des Sumpfwassers, und wieder andere glaubten, alles sei Folge eines übelgelaunten bösen Geistes. Chula und ihre Mutter waren davon verschont geblieben, viele aber hatten ihr Leben verloren.
»Es ist nicht das Gelbfieber.« Madame fixierte Chula mit ihren dunklen Augen und gab ihr zu verstehen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. »Es ist was anderes. Willst du sie untersuchen?«
Chula nickte. Sie wollte sich die Frau näher betrachten. Sie trat an die Schlafende heran, studierte die blasse Haut, die dunklen Ringe unter den Augen, ihre Hände und Füße, die zuckten wie die eines schlafenden Hundes.
Sie berührte Adeles Stirn und fühlte das trockene, heiße Feuer, das in ihr brannte.
»Sie hat heute Morgen einen Anfall gehabt und hat aus der Nase geblutet. Sie hat viel Blut verloren, bevor ich es mit einem kalten Umschlag stoppen konnte.« Madame trat neben Chula.
»Ist sie wieder zu Bewusstsein gekommen?«
Madame schüttelte den Kopf. »Ich dachte, das würde sie, aber sie ist einfach wieder in einen tiefen Schlaf gefallen. Sie will nicht aus ihren Träumen erwachen und zurück in diese Welt.«
Chula berührte eine von Adeles unruhigen Händen und hielt sie fest. Sie spürte das Zittern, als stünde Adele unter Strom. Chula atmete tief ein und sah zu Madame, die lediglich nickte.
Chula fuhr mit der Hand Adeles Arm hoch, tastete, drückte, fühlte. Dabei versuchte sie sich in ihren Gedanken frei
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