Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
diesen schmerzhaften Wunden aufriss.«
»Die Vorstellungskraft ist ein wichtiger Teil des Heilens. Die Krankheit des anderen zu fühlen heißt, sie zu verstehen.« Madame tätschelte ihr den Arm. »Aber sie kann auch gefährlich sein. Wenn man zu viel fühlt, führt die Krankheit einen in die Irre.«
Chula nippte an ihrem Tee. Madame hielt nie eindeutige Lehren für sie bereit. Auch hier konnte sie es so und so auffassen. »Hast du jemals Rosas Hände gesehen?«
»Ja. Sie ist zu mir gekommen, sie wollte, dass ich die Blutungen stille.«
Chula war überrascht. »Vater Finley wollte sie seligsprechen lassen. Er hat in ihr wohl eine Art Heilige gesehen – und erwartet, dass von ihrem Glanz auch etwas auf ihn und die Gemeinde abstrahlt.«
»Hast du vom Leben der Heiligen gelesen? Ist das etwas, was man sich freiwillig aussucht?«
Chula lachte. »Steinigung, Verfolgung, Verbrennen auf dem Scheiterhaufen, nein. Ich würde mir das nicht aussuchen, aber so habe ich es auch noch nie gesehen.« Sie wurde wieder ernst. »Konntest du Rosa helfen?«
»Es gab keine körperliche Ursache für ihre Wunden.«
»Eine geistige Ursache?«
Madame erhob sich. »Ist das nicht die gleiche Frage, die wir uns bei Adele stellen?«
Auch Chula stand auf. Sie zog den Brief aus der Tasche. »Hätte ich beinahe vergessen.«
Madame nahm den Umschlag entgegen und betrachtete ihn. »Meine Schwester schreibt mir jeden Monat. Sie sagt, in Kalifornien gibt es keine Mücken und Schlangen. Jeden Tag scheint die Sonne. Die Luft ist trocken und wie ein Kuss.« Sie legte den Brief auf den Tisch. »Ich würde dort sterben.« Sie schüttelte ihren Schurz aus. »Komm morgen wieder, wenn du kannst. Ich werde heute Nacht eine Tinktur zubereiten. Wahrscheinlich werde ich Hilfe brauchen, um sie Adele einzuflößen.«
»Gut.« Chula umarmte die ältere Frau. »Du kommst heute Nacht zurecht?«
»Der Vollmond ist vorbei. Zumindest für diesen Monat.«
Chula brauchte einen Augenblick, um den in Madames Mundwinkel angedeuteten Humor richtig zu deuten.
Sie lächelte noch immer, als sie losfuhr. In Gedanken versunken, steuerte sie eine scharfe Kurve mit tiefem Sand an und sah sich plötzlich einem Wagen gegenüber, der mitten auf dem Weg abgestellt war.
Fluchend trat sie auf die Bremse. Kaum hatte sie den Wagen nur Zentimeter vom anderen entfernt zum Stehen gebracht, sprang sie heraus und ging den Weg auf und ab. »Wo steckst du bloß, du dummes Arschloch?« Sie war so wütend, dass sie nicht mehr auf ihre Sprache achtete. »Welcher Idiot stellt seinen Wagen mitten in einer Kurve ab?«
Niemand war zu sehen. Ihre Wut ebbte allmählich ab, sie atmete tief durch und spürte die Oktoberkühle, die mit dem Sonnenuntergang einsetzte. Dann drehte sie sich um. Ein großer, schlaksiger Mann stand an seinem Wagen, den Fuß auf dem Trittbrett. Angewidert erkannte sie Praytor Bless. Er grinste wie ein Maultier, das an einem Dornbusch fraß.
»Ich hätte früher was sagen können, aber ich wollte mir nicht das Vergnügen entgehen lassen, Sie fluchen zu hören.« Praytor nahm den Fuß vom Trittbrett und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ein breiter Filzhut beschattete seine Augen. Er trug ein gestärktes Hemd und eine sorgsam gebügelte Wollhose.
Chula gefiel nicht, dass er sich zwischen ihr und ihrem Wagen aufbaute. Sie mochte ihn nicht. Er war eng mit Henri Bastion befreundet, und es gab Gerüchte, dass er sich ein eigenes Vermögen aufbaute. »Was machen Sie denn hier draußen, Praytor?« Sie sprach ihn absichtlich mit Vornamen an.
»Das kann ich Sie auch fragen.« Er schob die Hände in die Tasche einer fast neuen Jacke. Was immer er für Henri angeblich machte, es war sicherlich keine schweißtreibende körperliche Arbeit.
»Ich gehe meiner Arbeit nach.« Ihr Tonfall strafte ihr Lächeln Lügen. »Ich trage die Post aus.«
»Und ich gehe meiner nach.«
»Und die wäre?« Sie machte sich Sorgen um Madame. Es gab Dummköpfe, die meinten, Madame betreibe Voodoo oder irgendwelche Hexenkünste. Denen wollte nicht in den Kopf, dass sie eine Heilerin war, nicht jemand, der Flüche und Verwünschungen ausstieß.
»Ich kümmere mich um meine Interessen.«
Sie würde an ihm vorbeimüssen, wenn sie zu ihrem Wagen wollte, also ging sie einfach darauf zu. »Mir war noch nie klar, was Ihre Interessen sind, Praytor.«
»Ich bin Geschäftsmann, Miss Chula. Und nach den hiesigen Maßstäben ein erfolgreicher noch dazu.« Er wandte sich um, so dass er sie zu ihrem
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