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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Gesicht, er tauchte einen Lappen in die Waschschüssel und wischte ihr über die Stirn und die Wangen. Sie sah aus, als könnte sie wirklich jeden Moment sterben. Vieles wäre tatsächlich einfacher gewesen, wenn sie tot wäre. Die Gemeinde hätte sich beruhigt, die wilden Gerüchte über Werwölfe wären verstummt.
    Und ein Mörder würde frei herumlaufen. Denn Raymond wusste, dass sie unschuldig war. Er hatte zwar keine Beweise dafür, aber das sagte ihm sein Gefühl. Er hatte das Deputy-Abzeichen nicht angenommen, weil er die Gesetze kannte oder auf deren Einhaltung achten wollte, sondern weil die Arbeit für ihn symbolisierte, was aus ihm geworden war: ein Einzelgänger. Es passte zu dem, wie er sich selbst sah – jemand, der das Leben von außen betrachtete. Er beurteilte andere, wie er sich selbst beurteilte. Diese Frau hier, der das Leben so übel mitgespielt hatte, aber brauchte seine Hilfe. Mochte sie noch so sehr gesündigt haben, mit dem fraglichen Mord hatte sie jedenfalls nichts zu tun.
    »Adele, ich möchte Ihnen helfen.« Er sprach leise und fragte sich, ob Madame ihn hören konnte. »Ich glaube nicht, dass Sie Henri umgebracht haben. Ich möchte es beweisen, aber ich weiß nicht wie. Ich brauche Antworten von Ihnen. Sie müssen aufwachen und mit mir reden.«
    Adele seufzte. Ein Hauch von Ruhe legte sich auf ihre Gesichtszüge. In diesem Augenblick erst, im Schein des flackernden Feuers, wurde Raymond bewusst, wie schön sie sein konnte.
    »Wissen Sie, was mit Armand Dugas geschehen ist?«
    Der Name schien sie aufzuschrecken. Sie warf den Kopf hin und her, und Raymond war, als wäre sie fast bei ihm, als würde sich der Schleier der Bewusstlosigkeit heben.
    »Ich muss Dugas finden, wenn er noch am Leben ist.«
    Ihre Hände schienen ihn wegstoßen zu wollen.
    »Adele, lassen Sie sich helfen. Versuchen Sie es!«
    Er spürte, dass Madame hinter ihm stand, und drehte sich um. »Kann sie mich verstehen?«
    »Das weiß ich nicht, cher . Aber ich verstehe dich. Und ich mach mir Sorgen um dich. Manche Dinge lassen sich nicht ändern.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm morgen wieder. Wenn sie bis dahin noch lebt, ist sie vielleicht bei Bewusstsein.«

8
     
     

     
     
     
     

     
    lorence schob die dünnen Goldbügel durch das Loch in ihrem Ohrläppchen und richtete sich auf, um die Wirkung im Spiegel zu überprüfen. Die Ohrringe hatten genau die richtige Länge, der weiche Schimmer des Goldes wurde von ihrer Haut noch betont. Langsam drehte sie sich um und betrachtete das Zimmer. Die Bettlaken waren frisch gebügelt, die Tagesdecke war neu. Ein pfirsichfarbenes Tuch, über den Lampenschirm drapiert, sorgte für ein warmes, mildes Licht, das perfekt zu ihrer gebräunten Haut passte.
    Aus der untersten Schublade ihres Toilettentisches holte sie eine winzige Flasche mit echtem Parfüm und betupfte damit die Ohren, den Hals und den Ausschnitt, bevor sie den Rock hochhob und jeweils einen Tropfen auf den Nabel und ihr Schamhaar gab, das sich oberhalb ihres Hüfthalters abzeichnete. Sie hatte für den heutigen Abend sogar Seidenstrümpfe besorgt. Die waren nicht billig, aber die Wirkung war es wert.
    Sie streifte den Rock des engen schwarzen Kleides nach unten, das sie bei Marcel gekauft hatte, und wackelte mit den Hüften, um sich am Glanz des Stoffes zu weiden. Den Bruchteil einer Sekunde dachte sie sogar daran, tanzen zu gehen. Es fehlte in Iberia nicht an Bars und Kneipen, aber wenn sie mit jemandem zum Tanzen ging, war dies mehr oder weniger eine Verabredung; Florence Delacroix allerdings war nicht die Frau, mit der man sich in der Öffentlichkeit blicken ließ.
    Sie schluckte ihr bitteres Selbstmitleid hinunter und ging in die Küche. Ihr Drink hatte auf dem Tisch einen Wasserfleck hinterlassen, sie hob das Glas an und wischte den Fleck von der polierten Holzfläche. Er war spät dran. Sie trank den Bourbon aus, stellte das Glas in den Ausguss und ging auf die vordere Veranda, wo in der kühlen Brise das Zirpen der Insekten zu hören war.
    Es war eine klare Nacht, zwischen den gebogenen Ästen der Lebenseiche in ihrem Garten sah sie den runden Mond im schwarzen Samt schweben. Ihr schauderte.
    Sie schlug nach einer Mücke, deren hohes Summen um ihr Ohr kreiste, traf aber nur ihren goldenen Ohrring. Ende Oktober sollte es eigentlich nicht mehr so heiß sein. Das Wetter war nicht normal. Fast so, als würde Schlimmes bevorstehen.
    Sie knallte hinter sich die Fliegentür zu und ging ins Haus,

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