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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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sie von Madame fort? Sie war so schwach, dass sie sich allein kaum aufrecht hinsetzen konnte.«
    »Verrückte haben manchmal außergewöhnliche Kräfte.« Von älteren Huren hatte Florence Geschichten gehört, in denen Männer, unzurechnungsfähig vor Wut oder Demenz, die unmöglichsten Dinge vollbrachten. Einer, ein kleiner und meistens sehr schüchterner Freier, hatte in einem Bordell in New Orleans sechs Prostituierte ermordet, obwohl die Puffmutter insgesamt vier Schüsse auf ihn abgab. Man erzählte sich, er habe mit dem Messer immer noch zugestochen, nachdem sein Herz bereits aufgehört hatte zu schlagen.
    Florence berührte die halbmondförmige Narbe auf ihrer Wange. Verrückte verfügten über überraschende Kräfte. Sie wusste es aus eigener Erfahrung.
    Raymond ging im kleinen Zimmer auf und ab. Sie überlegte, ihm einen Drink anzubieten, aber sicherlich würde er ablehnen. Er trug seine Uniform und seine Waffe. Raymond trank nicht bei der Arbeit.
    »Es dauert noch ein paar Wochen bis zum nächsten Vollmond«, sagte sie. »Kein Vollmond, kein loup-garou .« Er lächelte.
    Raymond berührte ihre Wange und hob ihr Kinn an. »Danke, Florence.« Seine Stimme klang rau vor zärtlicher Empfindung. Er beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie streichelte seine Wange. Aus allem, was er tat, sprach seine Angst, er könnte die Kontrolle über sich verlieren und seinen Gefühlen nachgeben. Sie bemühte sich um einen unbefangenen Tonfall.
    »Gern geschehen, werter Herr. Wollen Sie, dass ich Ihnen die Zukunft vorhersage?« Sie sah ihn einladend an.
    Er zögerte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, was ihm durch den Kopf ging: die verlorene Zeit, die einfallende Dunkelheit, eine Frau allein in der Nacht, Halloween und die Streiche der Kinder, schließlich ihre eigenen Bedürfnisse, die seine Zeit und seine Aufmerksamkeit erforderten.
    »Sehr gern, wenn es schnell geht, verehrte Zigeunerin.«
    Die wenigsten würden Raymond Thibodeaux als galant bezeichnen, trotzdem vermittelte er manchmal diesen Eindruck. Manchmal gab er sich durch seine Worte als jemand zu erkennen, der durchaus Bücher gelesen hatte. Manchmal erzählten seine Augen von vergangenen, seit Jahren verdrängten Sehnsüchten, die ihn noch immer verfolgten. Kurz sah sie in seinem Blick etwas so Lebendiges aufflackern, dass sie sich beinahe verraten hätte.
    »Kommen Sie, und nehmen Sie an meinem Tisch Platz.« Mit Streichhölzern zündete sie die aufgestellten Kerzen an.
    Sie setzten sich beide, und dann spürte sie seinen Fuß unter dem bis zum Boden reichenden Tischtuch, das ihre Beine verbarg. Sie schlüpfte aus ihrer Sandale, legte ihm den Fuß in den Schritt und genoss seinen überraschten Gesichtsausdruck. »Ich sehe, Sie sind ein Mann mit tiefen Gefühlen«, sagte sie und übte mit der Ferse leichten Druck aus. »Ein sinnlicher Mann, der Freuden wie diese jedoch nur als Belästigung empfindet, wenn sein Verstand beschäftigt ist.«
    Raymond lachte auf und ermutigte sie, fortzufahren.
    »Heute Nacht wird sich die Gelegenheit ergeben, einen Vorsatz zu fassen. Sie werden die Gesellschaft einer dunkelhaarigen Frau genießen, die Ihnen Erleichterung verschafft. Einer sehr schönen dunkelhaarigen Frau mit Locken.« Sie verstärkte den Druck der Ferse und veränderte die Stellung des Beins, so dass die Zehen mit ins Spiel kamen.
    »Sieht die verehrte Zigeunerin auch, wo ich meine geflohene Gefangene finde?«
    Florence fuchtelte mit der Hand vor der Glaskugel herum, sie beugte sich vor, und in der kühlen Luft beschlug ihr warmer Atem die Kugel. Ein Schatten schien das Glas auszufüllen und sich schemenhaft zu bewegen. Sie erschrak so sehr, dass sie nach Luft schnappte.
    »Sehr überzeugend«, sagte Raymond. Er hatte mit der Hand ihren Fuß gefunden und massierte ihren Spann. »Was siehst du?«
    »Eine Suche«, stammelte Florence, noch immer unfähig, sich wieder zu fassen. »Eine Suche in dunklen Wäldern.«
    Raymond setzte ihren Fuß auf den Boden und sprang auf. »Alles in Ordnung?«
    »Natürlich.« Sie rang sich ein Lachen ab. »War nur ein Witz. Die Kugel ist leer.« Widerstrebend sah sie erneut hin. Aber da war etwas gewesen. Höchstwahrscheinlich hatte sich in der Glaskugel das Kerzenlicht oder der vergrößerte Schatten ihrer eigenen Hand gebrochen. Wie auch immer, Raymond hatte sie damit verloren. Er kam zu ihr herüber und küsste sie im Schutz der Dunkelheit auf die

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